Mystik

Posted 6 yrs ago

Mystik, auch: Geheimnisse der Thora.

I. Name, Bedeutung, Begriff, Wesen und Charakteristik. Unter »Mystik« verstehen wir hier die zweite Entwick­lungsgestalt der jüdischen Geheim­lehre, wie dieselbe in der nachtalmudi­schen Zeit von 500 n. bis gegen das elfte Jahrhundert n. sich ausgebildet und die jüdischen Gelehrten viel be­schäftigt hat. Sie ist das Mittelglied zwischen der talmudischen Geheim­lehre und der Kabbala des Mittelalters; sie entspringt aus jener und mündet in diese; alles, was sie hat, entnahm sie derselben und führt es in vielfacher Ge­staltung der Kabbala zu. Das Charak­teristische ihrer Lehr- und Darstellungsweise macht sich besonders in ihrer Zeichnung des Übernatürlichen, Metaphysischen, geltend. In ihren Leh­ren von Gott und der Geisterwelt ge­braucht sei zur Darstellung des Über­weltlichen und Übermenschlichen nicht, wie die griechische Philosophie, die Negation, sondern das Positive in seiner Unermesslichkeit und Ungeheu­erlichkeit, was sie durch Zahlen und Darstellungsweise, wie sehr dieselbe in ihrem vorsichtigen, mäßigen Gebrauch nichts Schädliches und Gefahrbringen­des für das Judentum zu enthalten schei­nen mochte, war es doch gar bald, wel­che die reinen Lehren der Bibel und des Talmuds von Gott und seinem Wesen entstellte. Die Mystik hat sich, wie dies schon mit Recht der große Maimonides (1135 — 1204) erkannt hat, und dem sich nicht einmal dessen scharfsinniger Kritiker Abraham ben David (gest. 1198) erwehren konnte, in ihren Lehren über Bibel und Talmud erhoben und de­ren reinen Quell der Gotteslehre ver­schüttet. Der Anthropomorphismus, der im biblischen Schrifttum als Kon­zession an die Volksdenk- und sprech­weise gebraucht und im Talmud be­schränkt zugelassen wird, hat in der Mystik seine weiteste und unbe­schränkteste Gestalt erhalten. Fast sämtliche Lehren von Gott, den Geis­ter- und Himmelswesen, der Gottesof­fenbarung und der göttlichen Weltre­gierung, von Messias, der Hölle und dem Paradiese u. a. m., wie sie sich in dem Nebenschrifttum der Bibel, als z. B. im Henochbuch und im 4. Esra­buch u. a. m. vorfinden und die der Talmud als ketzerisch bezeichnet und aus dem Judentum gewiesen hat, sowie die Aussprüche einiger Gesetzeslehrer als z. B. die des R. Akiba und des Si­mon Sohn Asai u. a. m. über Gott, En­gel, Messias usw., die von den anderen Lehrern als mit der reinen biblischen Lehre unvereinbar bekämpft und ver­worfen wurden, finden wir in den Schriften der Mystik wieder, wo sie un-gescheut entwickelt und dargestellt werden. Es war Babylonien, die Heim­stätte der Mystik und ihres Schrift­tums, wo das Judentum nicht von dem Sektiererwesen gleich Palästina heim­gesucht wurde und man sich der schwe­ren Folgen solcher Geheimlehren weni­ger bewusst war, um deren Ausbreitung verhindern zu wollen. So konnte die Mystik zensurfrei ohne jedwede Stö­rung an ihrem Bau arbeiten und ihre Lehren unbehindert entwickeln; es sind Auswüchse der talmudischen Geheim­lehre; Pflanzen, denen die jätende Hand des Gärtners gefehlt.

II. Thema, Lehren, Schrifttum, Ent­stellung, Widersprüche mit Bibel und Talmud. Das Thema der Mystik ist, den ganzen Lehrinhalt des Judentums mit allen seinen Anschauungen zu durchdringen und dessen Gesetze und Dogmen zu Bausteinen für ihr System umzugestalten. Gott, Schöpfung, Him­mel, Hallen, Gottesthron, Gotteswagen, Merkaba, Engel, Mensch, Israel, Offen­barung, Gesetz, Sünde, Opfer, Tempel, Jerusalem, Versöhnung, Messias, Hölle, Paradies, Auferstehung, Weltgericht, zukünftige Welt u. a. m. sind die Ge­genstände, die in den Kreis ihrer Be­trachtung gezogen werden. In der Dar­stellung ihrer Lehren haben wir genau die Kennzeichen anzugeben, wie die­selben sich von denen der talmudischen Geheimlehre unterscheiden und im Wi­derspruch mit der reinen Bibellehre stehen. Ihr Schrifttum, in dem diese ihre Lehren niedergelegt sind, besteht aus den jüngeren Midraschstücken im Midrasch Rabba und den kleinen Midraschschriften, die vom sechsten bis zum elften Jahrhundert n. abgefasst wurden und die wir hier nach ihrem Inhalt, so weit sie die Lehren der Mys­tik enthalten, in drei Gruppen zusam­menstellen:

a) Die über Gott, Schöpfung, Geis­teswelt, Himmeshallen, Gottesthron, Offenbarung und Gesetz. Hierher ge­hören: 1. die Abschnitte des R. Elieser, Pirke de R. Elieser; 2. das Buch Rasiel; 3. die Buchstaben und das Alphabet des R. Akiba; 4. die Himmelshallen, Hechaltoh; 5. der Thronwagen, Mer­kaba; 6. das Schöpfungswerk; 7. die Weltgründung; B. der Weisheitsquell; 9. das Henochbuch und das Leben He­nochs u. a. m.

b) Die über Israel, Messias und Er­lösung. Wir rechnen hierher: 1. den Midrasch Serubabel; 2. den Midrasch Vajoscha; 3. die Zeichen des Messias; 4. das Buch von Eliahu; 5. die Messianischen Abschnitte; 6. die Geheimnisse des R. Simon ben Jochai; 7. Messiassa­gen u. a. m.

c) Die über Sünde, Vergebung, Ver­geltung, Hölle und Paradies: 1. Traktat von Grabesleiden; 2. Traktat von der Hölle; 3. Traktat vom Paradies; 4. Ge­schichte von R. Josua ben Levi u. a. m. Von den Lehren nennen wir erst die a) über Gott. In derselben überschrei­tet die Mystik die äußerste Grenze des Anthropomorphismus. Die biblischen Bezeichnungen in »Hand Gottes«, »Füße Gottes«, »Auge Gottes«, »Mund Gottes« usw. und die Aussagen von Gottes Tätigkeit als z. B. Sitzen, Gehen, Sprechen, Zürnen u. a. m. werden ge­gen die talmudische Auffassung, die­selben nur als bildliche Redeweise nach der Volkssprache zu nehmen, buch­stäblich gedeutet und weiter entwi­ckelt. Man kam dahin, Gott nach der menschlichen Körpergestalt darzustel­len und vergaß, dass dadurch die jüdi­sche reine Gottesidee zu einer heidni­schen, grobsinnlichen verunstaltet wird. Um doch Gott höher als den Menschen zu zeichnen, verirrte man sich zum zweiten Male zu einer sinnli­chen Darstellung und fasste das bibli­sche Attribut von Gottes Größe und Erhabenheit nicht, wie der Talmud, in geistigem Sinne, sondern menschlich und leiblich. Man dachte sich die Kör­perlichkeit Gottes in ungeheuerlicher Ausdehnung und erfand Zahlengrößen für dieselbe, die alles Weltliche über­steigt und für den Menschen unfassbar wird. Es war dies das Geheimnis von der Maßbestimmung Gottes, gegen welches mit Recht Salomo ben Je­ruchum, der gelehrte Karäer (885 — 960) in seiner Schrift »Milchamoth« erbittert ankämpft. In den Midrasch­schriften darüber heißt es: »R. Ismael und R. Akiba wurden auf Gottes Ge­heiß des Geheimnisses der Maßbestim­mung Gottes, Schiur Koma, gewür­digt.« Nach demselben wurde die vermeintliche leibliche Gottesgestalt Glied für Glied gemessen und be­stimmt. »236 Myriaden Parasangen, die Parasange zu 1000 x 1000 Ellen, und die Elle zu 4 Spangen und einer Handbreit und die Spange zu 1000 Entfernungen von einem Weltende zum anderen, beträgt die Körperhöhe der Schechina (Gottheit)«, lautet diese mystische Messung Gottes. Es versteht sich, dass diese und ähnliche Versinnli­chung der reinen Gottesidee des Juden­tums bald die Geister auch im Kreise des Rabbinismus zu dessen Bekämp­fung und Verweisung weckte. Der Erste unter den Rabbinern, der gegen diese angebliche Maßbestimmung Gottes, gleich nachdem sie bekannt geworden, auftrat, war Saadja Gaon (892 — 942). In seiner Entgegnung auf die Angriffe des oben genannten Karäers Salomo ben Jeruchum sagte er, dass die Lehre vom Schiur Koma sich weder in der Mischna, noch im Talmud befinde und stellt dessen Zitierung im Namen des R. Ismael und R. Akiba als völlig in Abrede, sie sei lügenhaft und erdichtet. Nach ihm sprach gegen diese Mystik Scherira Gaon (930 — 1000): »Unser Schöpfer«, lautet seine Entgegnung darauf, »ist zu erhaben, dass man ihm, behüte Gott dafür, Glieder und Maße zuschreiben sollte.« Viel nachdrucks­voller noch bekämpft sein Sohn Hai Gaon (998 — 1038) diese anthropo­morphistische Mystik (Taam. Sekenim S. 54). Man hielt diese ganze Angabe von dem Gottsmaße als eine von den Karäern ins rabbinische Judentum ab­sichtlich zu dessen Schändung ver­pflanzte Dichtung. Am heftigsten trat gegen sie der große Maimonides auf, dessen treffliche Worte wir im Artikel »Kabbala« nachzulesen bitten.

Eine zweite, das Judentum verdun­kelnde Lehre der Mystik ist die b) von den Engeln. Die Engel werden in Bibel und Talmud als von Gott geschaffene und ihm untergeordnete Wesen darge­stellt, die in keiner Weise Gottgleichheit haben. Aber die Mystik erhebt den En­gel Metatron zu einem zweiten Gott; sie stattet ihn mit dem Gottesnamen aus, lässt ihn andere 92 Gottesnamen führen, und bezeichnet dessen Würde durch die Worte: »Ich (Gott) habe sei­nen Thron über die Majestät meines Thrones erhoben; seine Herrlichkeit von meiner Herrlichkeit vermehrt usw. «

c) Die Gottesnamen und die Wun­dertätigkeit mittels derselben. Schon die talmudische Mystik kennt Gottes­namen von 12, 42 und 7z Buchstaben, sowie die Kunst der Zusammensetzung der Buchstaben der Gottesnamen, aber mit welcher Vorsicht wird von derglei­chen Sachen gesprochen. »Wer den Na­men (von 42 Buchstaben) kennt, ihn in Reinheit bewahrt«, schärft der Lehrer Rabh seinen Jüngern ein, »ist geliebt im Himmel, auf Erden angenehm; bei den Menschen im Ansehen und Erbe beider Welten. « Dagegen spricht die nachtal­mudische Mystik von 70 Gottesnamen, die angegeben sind, und andere nicht angegebene, sind, nach ihr, zahllos. Zweiundneunzig sind im Gottesthrone, andere in der göttlichen Krone einge­graben u. a. m. Diese Gottesnamen werden jedoch in dieser Mystik zu ganz anderen Dingen; sie sind die Siegel der Weltordnung und der göttlichen Be­schlüsse. Hierin entdeckte weiter die Mystik das Geheimnis der Wundertä­tigkeit, sodass beim Aussprechen dieser Gottesnamen sich der Himmel mit Feu­erflammen füllt usw. Auch gegen diese Ausartung der Mystik kämpften die oben genannten Rabbiner und erklär­ten solches Gebaren als unjüdisch und für betrügerische Werke, denen man fern bleiben soll. Mehreres siehe »Ge­heimlehre« und »Kabbala«.