Krankenbesuch

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Krankenbesuch. Das Aufsuchen der Kranken, um ihnen unsere Teil­nahme zu bezeugen und, wo es nötig ist, helfend beizustehen, gehört im Ju­dentum zu den Liebeswerken, die mit vielem Nachdruck von den Volksleh­rern in ihren Vorträgen als eine heilige Pflicht des einen Menschen gegen den anderen empfohlen wird. So hat das talmudische Schrifttum eine Menge von Lehren über die Wichtigkeit dieses Humanitätsaktes. Man fand keine aus­drückliche Vorschrift für die Pflicht des Krankenbesuches im mosaischen Ge­setz, aber es bedurfte dessen nicht; sie lebte gleich den andren Liebeswerken tief in des Israeliten Herz, die den Grundzug seines Lebens bildeten. Das spätere jüdische Religionsgesetzbuch, bekannt unter dem Namen »Schulchan Aruch«, hat in seinem zweiten Teile (Jore Dea) mehrere Abschnitte (335 — 340) derselben gewidmet, und es exis­tiert keine Gemeinde in Israel, die nicht einen separaten Verein für diesen Wohltätigkeitsakt haben sollte. Doch fehlte es auch nicht an biblischen Schriftstellen, die von den frühesten Gesetzeslehrern zu Anknüpfungspunk­ten für ihre Lehren darüber gebraucht wurden. Dieselben sind: »Denn ich weiß, dass er seinen Söhnen und sei­nem Hause nach ihm befehlen wird, den Weg des Ewigen zu beobachten, um Wohl tun zu üben«; ferner: »Und mache ihnen den Weg bekannt, den sie gehen und das Werk, welches sie voll­ziehen sollen«; »Heil dem Manne, der für den Armen (hier im Sinne von Lei­denden) sorgt, am Unglückstage wird ihn der Ewige retten.. Die Lehre von der Pflicht des Krankenbesuchs lautet: »Dem Ewigen, eurem Gott, sollet ihr nachwandeln« (5. M. 13. 4), vermag denn der Mensch Gott nachzuwan­deln? Wandle die Wege seiner Werke. Gott besucht die Kranken (1. M. 18. 1), so suche auch du die Kranken auf. Hierzu kommen die Beispiele des Kran­kenbesuches in der Bibel, als z. B. die von Joseph bei seinem kranken Vater Jakob u. a. m., ein Beweis, dass dieser Akt bei den Israeliten in ältester Zeit schon gern geübt wurde. So erhielt die Sitte des Krankenbesuches als wichti­ges Gebot (mizwa gedola) ihre Auf­nahme in das jüdische Ritualbuch »Tur Joredea « § 335. Dem gläubigen Her­zen soll die Erfüllung desselben ein Lie­beswerk sein, dessen Früchte man schon im Diesseits genießt, von dem jedoch der Stamm (קרן קיימת) ein Lohn für das Jenseits bleibt. Wofür dasselbe in der Mystik galt, darüber belehrt uns der Ausspruch: »Wer Kranke besucht, wird von dem Strafge­richt der Hölle gerettet, denn also heißt es: Heil dem Manne, der für den Ar­men sorgt, am bösen Tage rettet ihn der Ewige. « Aber welchen Lohn hat er im Diesseits? »Der Ewige bewahrt ihn, erhält ihn; er lebt im Lande glücklich und gibt nicht seiner Feinde Wut preis«, d. h. er bewahrt ihn vor dem bösen Trieb; er belebt ihn in den Leidensta­gen; alle ehren ihn und er trifft mit guten Freunde zusammen. Andere rechnen den Krankenbesuch zu den Gegenständen, die dem natürlichen Tod des Menschen vorausgehen und ihn kennzeichnen. »Der Mensch«, heißt es, »wird krank, legt sich zu Bett und seine Freunde besuchen ihn.« Hierher gehören noch mehrere Lehren, welche die Pflicht des Krankenbesuches genauer bestimmen. Nach denselben soll keiner sich derselben entziehen; auch nicht der Vornehmere und Ältere. Es besuche, heißt es, der Ältere den Jüngeren, der Vornehme den Geringen — so oft es nötig ist; auch hundertmal, wenn es den Kranken nicht belästigt. So soll es auch gegen Heiden und Nichtjuden überhaupt geschehen. »Man besuche die Kranken der Nicht­juden gleich denen der Israeliten.« Eine Ausnahme hiervon machen nur die Kranken, die von Darmleiden, Augen-und Kopfschmerzen heimgesucht sind, die besonders der Ruhe bedürfen und deren Nichtbesuch rätlich erscheint. Über die Besuchszeit war die Mah­nung, dass sie nicht in den ersten drei Tagesstunden (von sechs bis neun Uhr morgens) sei, weil der Kranke um diese Zeit etwas wohler aussieht und man den Grad der Krankheit unterschätzen könnte, auch nicht in den letzten drei Tagesstunden (von drei bis sechs Uhr abends), weil alsdann der Kranke sich sehr matt fühlt und dessen Zustand ge­fährlicher erscheinen würde. Der Spruch darüber war: »Steigt die Sonne, sinkt die Krankheit; sinkt die Sonne, steigt die Krankheit.« Nach einer an­deren Bestimmung sollen die Verwand­ten den Krankenbesuch erst abstatten, dagegen die Fremden nach Ablauf von drei Tagen nach der Erkrankung. Doch war es mit dem Besuche allein nicht ge­nug;' neben den Beweisen der Teil­nahme gegen die Leiden des Kranken sollte man sich auch um seine Verhält­nisse bekümmern, um aufzuhelfen, wenn es Not tue. So knüpfen sich an den Krankenbesuch mehrere Pflichten. Die erste ist die Sorge für die leibliche Pflege und Bedürfnisse des Kranken. R. Akiba, so wird erzählt, besuchte seinen kranken Schüler; er sah sich um und bemerkte, dass der Kranke ohne Wär­ter dalag. Da scheute er es nicht, selbst Hand an das Werk zu legen. Er reinigte und säuberte das Zimmer, schaffte fri­sche Luft in dasselbe und bewirtete den Kranken. Dankbar schaute der Schüler seinen Lehrer an und sprach: »Meister, du hast mich belebt!« R. Akiba selbst war von diesem Vorfalle so sehr ergrif­fen, dass er in seinem nächsten Vortrag die Wichtigkeit des Krankenbesuchs in der Lehre zusammenfasste: »Wer den Besuch eines Kranken unterlässt, hat gleichsam einen Mord begangen.. Die­ser Ausspruch wurde in positiver Fas­sung von einem späteren Lehrer noch im dritten Jahrhundert wiederholt. R. Jochanan lehrte: »Wer den Kranken besucht, bewirkt eine Verlängerung dessen Lebens, aber wer es unterlässt, verursacht die Verkürzung desselben.« Eine andere Lehre gibt an, dass der Krankenbesucher den sechzigsten Teil der Krankheit verringert (Nedarim 4o). Eine zweite Pflicht war der Austausch von Gedanken, den Kranken zu Mit­teilungen über wichtige Gegenstände zu veranlassen. Es ist nicht uninteres­sant, solche Krankengespräche, wie sie uns das talmudische Schrifttum aufbe­wahrt hat, kennen zu lernen, von de­nen hier einige ihren Platz finden sol­len. R. Elieser wurde krank, da besuchten ihn seine Schüler. Dieselben sprachen: »Unser Lehrer! Lehre uns den Lebenspfad, damit wir des künfti­gen Lebens (im Jenseits) teilhaftig wer­den.« »Seid bedacht der Ehre eurer Kollegen, entziehet eure Kinder den Grübeleien (הניון), lasset sie wohnen unter den Weisen, und so ihr betet, wisset, vor wem ihr betet, wisset, vor wem ihr stehet. Dadurch erlangt ihr das Leben in der zukünftigen Welt.« Eine andere Stelle erzählt von dem Krankenbesuch bei R. Jochanan b. S. Die Schüler traten ein und fanden ih­ren Meister in Tränen. Als dieselben sich darüber wunderten und ihn nach der Ursache der Zerknirschung frag­ten, rief er ihnen zu: »Führte man mich vor einen sterblichen König, dessen Zorn und Verurteilung nicht auf die Ewigkeit sich erstreckt, würde ich da nicht betrübt sein? Da werde ich vor Gott, den Ewigen geführt, dessen Ver­urteilung eine ewige Verdammung ist, sollte ich nicht weinen? Zwei Wege sind vor mir, der eine führt zur Hölle, der andere ins Paradies, weiß ich, wel­cher der meinige sein werde!« »Lehrer, segne uns! « Er antwortete: »Es sei bei euch die Ehrfurcht vor Gott wie die vor Menschen!. Die Jünger riefen er­staunt: »Das ist alles!« Da fuhr er fort: »0, wollte der Mensch, wenn er sün­digt, stets darauf bedacht sein, dass ihn kein anderer dabei sehe!« Eine dritte Stelle bringt den Bericht von dem Kran­kenbesuche der vier angesehensten Lehrer (im ersten Jahrh. n.): des R. Akiba, R. Tarphon, R. Josua und R. Eleasar, Sohn Asarja bei ihrem Kolle­gen, dem schon genannten R. Elieser. Der Kranke klagte über die ihn verzeh­rende Fieberhitze: »Eine mächtige Son­nenglut ist in der Welt!« Da weinten sie alle. R. Akiba allein machte eine Ausnahme, er lachte. »Warum lachst du, Akiba? «, riefen ihm seine Kollegen zu. Er entgegnete: »Das, was euch zu Tränen rührt, das stimmt mich freudig. Hätte ich das Lebensglück bei unserm Lehrer in Fülle gesehen, ich würde ge­dacht haben, er hatte schon im Dies­seits seine Welt, aber nun sehe ich das Gegenteil!« »Aber, Akiba«, fiel ihm der Kranke ins Wort: »Habe ich denn vom Gesetze etwas unterlassen!« »Meis­ter!«, antwortete Akiba, »du hast es uns gelehrt: Es gibt keinen Gerechten auf der Erde, der nicht sündigen sollte!. Beruhigend riefen ihm die an­deren zu: R. Tarphon: »Du warst Israel segensvoller als der Regen, du förder­test uns das Wachstum für das Dies­seits und Jenseits«; R. Josua: »Dein Licht war uns lieber als das der Sonne, weil es uns den Weg zum ewigen Leben erleuchtete«; R. Eleasar b. Asarja: »Deine Heranbildung war uns vorzüg­licher als die der Eltern, denn sie bringt uns in die künftige Welt.« Da wendete sich wieder Akiba an seinen Meister und sprach von dem Wert der Leiden, die uns läutern und von den Vergehun­gen reinigen. Wahrhaft rührend ist es, wie ein anderer Lehrer, der kranke R. Jose ben Kisma, seinen Kollegen, den R. Chanina ben Teradjon, der ihm ei­nen Krankenbesuch abstattete, er­mahnte, von seinem Vorhaben, öffent­liche Lehrvorträge gegen die römischen Verfolgungsedikte, die dieselben bei Todesstrafe verboten, zu halten, abzu­stehen — mit dem Hinweis auf Roms Macht und Herrschaft, die doch ohne den Willen Gottes keinen Bestand ha­ben könnten. Andere Mahnungen wa­ren, dass der Kranke sein Haus bestelle, Angaben über Schulden und Ausstände mache, den Segen den Seinigen erteile und sich mit Gott durch Ablegung ei­nes Sündenbekenntnisses versöhne. »Wer krank wird und dem Tode nahe ist, den ermahne man zum Sündenbe­kenntnis, denn alle, welche dem Tode nahe sind, sollen ihre Sünden beken­nen.. Ein dritter Brauch war endlich für die Genesung des Kranken zu be­ten. »Wer den Kranken besucht, soll für ihn von Gott Barmherzigkeit erfle­hen«, lautete die Mahnung darüber. So war es Sitte, dass der Besucher beim Eintritt und Fortgehen ein kurzes Ge­bet sprach. Dasselbe konnte in hebräi­scher oder in einer andren, dem Kran­ken verständlichen Sprache verrichtet werden und lautete: »Gott erbarme sich deiner und der anderen Kranken in Israel!«; oder: »Gott erbarme sich deiner unter den Kranken Israels!.; auch: »Gott denke deiner zum Frie­den!«; auch: »Gott sende dir baldige Genesung!«; ferner: »Gott sende dir baldige Heilung und allen anderen Kranken in Israel!« (Perischa zu Jore Dea 335). Am Shabbath, wo, um jede traurige Stimmung zu vermeiden, Ge­bete für Kranke verboten waren, sprach man: »Es ist Shabbath, man soll nicht klagen, die Genesung möge bald kom­men! «