Kabbala - Tradierte Geheimlehre

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Kabbala. Tradierte Geheimlehre, tra­ditionelle geheime Theosophie, die auf Voraussetzung von gewissen Lehren be­ruhenden, im Gegensatz zur vorausset­zungslosen Philosophie sich entwickeln­den mystischen Philosopheme von Gott, Welt, Menschen, Offenbarung und Ge­setz; deutlicher: Chochmath Hakab­bala, Weisheit der Kabbala, oder: Cho­chma nisthara, geheime Weisheit; Kabbalisten, mekubalim, deutlicher: baale mekubalim, Meister der Kabbala; ferner: Jode chen, Kenner der geheimen Weisheit, auch nur kurzweg: Jodiim, Kenner, Wissende, Gnostiker, Benen­nungen der Pfleger dieser geheimen Lehren, der Kabbala-Beflissenen.

I. Name, Begriff, Wesen, Aufgabe, Stellung und Charakteristik. Der Name »Kabbala«, als Benennung der Geheim­lehre der Juden, kommt in dem jü­dischen Schrifttum des zehnten Jahr­hunderts zuerst vor; er bezeichnet die eigenartige Geheimlehre unter den Ju­den im Mittelalter, die wir zum Unter­schiede von der des talmudischen Schrifttums und der nachtalmudischen, der gäönischen Zeit (siehe: »Mystik«) die dritte Entwicklungsgestalt der Ge­heimlehre nennen, welche die Ver­schmelzung der anthropomorphisti­schen Mystik mit der spekulativen zu ihrem Gegenstande hat, und so als eine aus dem Schoße des Judentums sich ent­wickelnde Theosophie gekannt ist, die gegen die das Judentum verflachende Philosophie der Juden im Mittelalter ge­richtet war und sie zu verdrängen suchte. Von den Kabbalisten werden ihre Lehren als Tradition bis auf die Propheten hinaufgeführt, was jedoch entschieden in Abrede gestellt wird. Die Benennung »Kabbala« bedeutet nach ihrem hebräischen Stamme »Kbl.«, empfangen, im jüdischen Schrifttum jede auf mündliche Mitteilung beru­hende, nicht schriftlich verzeichnete Lehre. So versteht man im talmudischen Schrifttum unter »Kabbala« sämtliche nicht pentateuchischen Schriften in ih­rem Unterschiede vom Pentateuch, der Thora als dem Grundgesetz der Offen­barungsschrift. Auf gleiche Weise wurde später das in der Mischna zusammenge­fasste, nichtpentateuchische Gesetz »Kabbala«, »mündlich tradiertes Ge­setz«, genannt. Ebenso bezeichnete man in noch späterer Zeit, etwa vom zehn­ten Jahrhundert ab mit »Kabbala« auch die angeblich auf mündlich über­lieferten Lehren beruhende geheime Theosophie der Juden Ebner Joch. Zugleich wollte man mit dieser Bezeichnung das Eigen­artige derselben, ihren Gegensatz zur voraussetzungslosen Philosophie mit ausdrücken, und sie als die echte jüdische Theosophie ankündigen. Sie hat die talmudische Geheimlehre und die nachtalmudische zu ihren Vorläufern und zu ihrer Voraussetzung, ohne sich jedoch von ihnen beschränken zu las­sen; sie geht in ihren Forschungen über sie hinaus. So tritt sie entschieden ge­gen jede vermenschlichende Vorstel­lung von Gott auf, macht die Spekula­tion zur Basis der Religion und sucht die anthropomorphimistischen Vor­stellungen der früheren Mystik durch allegorische Auffassung bildlich darzu­stellen. Ihre Aufgabe war, einerseits das Judentum vor der Verflachung der bei den Juden im zehnten, elften und zwölften Jahrhundert heimisch gewor­denen Philosophie zu schützen, ebenso andererseits es von den Ausartungen der grobsinnlichen Vorstellungen von Gott, wie die der Mystiker des achten, neunten und zehnten Jahrhunderts, zu reinigen. Sie spricht den Fluch gegen dieselben aus, und brandmarkt erstere durch die Benennungen: »Magd« oder »Fremde«, gegenüber derselben die Kabbala als »Gebieterin«, die echte jü­dische Theosophie, gelten will. Eine weitere Bezeichnung gilt ihren Teilen: der von ihrer Theorie heißt: »Theore­tische Kabbala«, Kabbala Ijunith; der ihrer Praxis: »Praktische Kabbala«, Kabbala Maaßijoth.

II. Thema, Lehren, System, Wider­sprüche, Kämpfe, Macht und Einfluss. Die Kabbala, die spekulative Geheim­lehre, wie sie sich als die dritte Entwick­lungsgestalt der jüdischen Geheimlehre aus dem Jezirabuch (Schöpfungsbuch) im elften Jahrhundert herausgebildet, oder an dasselbe sich angelehnt und in den Lehren des Buches »Sohar« im drei­zehnten Jahrhundert sowie in denen der nach ihm verfassten kabbalistischen Schriften späterer Zeit ihre weitere Ent­wicklung erhalten, hat den ganzen Lehrinhalt des Judentums mit nicht ge­ringer Herüberstreifung in das Gebiet der Halacha in den Kreis ihrer Betrach­tungen gezogen; sie behandelt die Leh­ren der Dogmatik, des Kultus und der Ethik; sie beleuchtet nach ihrer Weise die bedeutendsten Partien der biblischen und späteren Geschichte, und ihre Er­klärungen erstrecken sich auf einen großen Teil der Aussprüche der heiligen Schrift. Gott, Welt, Schöpfung, Mensch, Seele, Geist, Geister, Engel, Dämonen, Offenbarung, Gesetz, Prophetie, Weis­sagung, Freiheit, Sünde, Versöhnung, Gebet, Opfer, Tempel, Synagoge, Exil, Erlösung, Messias, Messiasreich, Welt­regierung, göttliche Vorsehung, Vergel­tung, Weltgericht, Jenseits, zukünftige Welt, Weltende u. a. m. sind die Gegen­stände, die von ihr besprochen und dar­gestellt werden. Die Kabbala stellte sich die nicht geringe Aufgabe, die Mystik mit einer Beimischung von Philosophe-men aus dem jüdischen Alexandrinis­mus, wie sie durch die jüdischen Ge­lehrten Alexandriens in ihrem Verkehr mit den auswärtigen Glaubensgenos­sen schon Jahrhunderte früher bei den Juden Palästinas und Babyloniens Ein­gang gefunden zu verschiedenen Zeiten bald mehr, bald weniger geheime An­hänger hatten, zum einzigen Boden des Judentums zu machen, sie als die wahre, alte, aus dem Schoße des Judentums sich entwickelte höhere Auffassung der jüdischen Religion aufzustellen und so dem im elften und zwölften Jahrhundert philosophisch sich aufbauenden Judentum entgegenzutreten. Wir beginnen mit ihren Lehren über:

A. Gott. In denselben will sie keine Beweise für das Dasein Gottes, sondern nur eine Definition, eine Erklärung von seinem Wesen geben. Als Glaubenswis­senschaft steht die Kabbala auf dem po­sitiven Boden der Bibel; sie setzt das Dasein Gottes voraus und will nicht be­weisen, dass Gott sei, sondern nur er­klären, was man unter »Gott« zu ver­stehen habe. Ihre Lehren von Gott sind die von der Beschaffenheit seines We­sens und fallen mit denen über dessen Eigenschaften zusammen. Die Eigen­schaften Gottes sind die Merkmale, nach denen das göttliche Wesen uns be­zeichnet und erkennbar vorgeführt wird. In der Angabe derselben steht sie auf dem Boden der Spekulation. Gleich der neuplatonischen Philosophie, wie sie in dem philonischen System ihren Ausdruck gefunden, erscheinen auch ihr Gott und Welt als geschiedene Ge­gensätze; diese sichtbar, daher bestimm-und bezeichenbar, jene unsichtbar und schlechterdings für den Menschen nicht erkennbar. Nur soweit Gott sich in sei­nen Werken der Weltschöpfung und Weltregierung geoffenbart, kann er er- kannt und dargestellt werden. So spricht die Kabbala gleichsam von zwei Gott­heiten, von der Gottheit an sich, der un-geoffenbarten, und von der in der Of­fenbarung, der geoffenbarten Gottheit, die sie in Bezug auf Erkennbarkeit von­einander unterschieden haben will. Gott an sich kann durch kein Bild, auch nicht durch das der höchsten Potenz der mög­lichsten Vollkommenheit dargestellt werden; er soll einfach für den Men­schen als unfassbar und unerklärbar gelten. Für den Unendlichen (en sof) heißt es, »gibt es keine Bezeichnung; über ihn kann weder eine Frage, noch irgendeine Betrachtung angestellt oder ein Gedanke entworfen werden.« »Gott«, lautet eine andere Lehre, »ist unfassbar, weil er nicht wahrgenommen werden kann«; ferner: »Gott kann durch keine Weisheit, keine menschliche Vernunft erkannt werden«; »Der uralte heilige Gott ist das Allerunbekannteste, geschieden von der sichtbaren Welt und doch nicht geschieden, denn alles hängt von ihm ab; er ist gestaltet und nicht gestaltet; gestaltet, denn er erhält alles, er ist nicht gestaltet, weil er nicht wahrnehmbar ist.« So heißt »Gott« schlechthin »der Verborgenste alles Verborgensten« oder »der Geheimste alles Geheimsten,» das »Nichts«, ajin, in Bezug auf seine Unerkennbarkeit, das Unendliche, en sof, in Betracht der Welt und ihrer Endlichkeit, auch »der Alte der Alten«, oder das »Urprinzip« auch »Oberes Prinzip«. Diese Unerkennbar­keit Gottes wird auch für die Geisterwelt behauptet. Dagegen soll der geof­fenbarte Gott, d. h. Gott, wie weit er aus seiner Absolutheit herausgetreten und durch seine Werke sich geoffenbart hat, erkennbar gehalten werden. In Be­zug auf Hohld. 3. 11 heißt es: »Wer ver­mag den König des Friedens zu schauen, den auch das Himmelsheer nicht fassen kann? Wer die Krone (siehe weiter) schaut, sieht auch den König! « Eine an­dere Lehre wird an den Ausruf in Jesaja 40, 25: »Hebet eure Augen auf, wer (mi) hat diese geschaffen! angeknüpft: »Vor der Schöpfung und am Anfange derselben war Gott da und nicht da, dunkel und verhüllt in seinem Namen, er konnte nur als das unbestimmte »Wer?« (mi), gelten. Aber er wollte sich offenbaren und durch Namen gekannt sein; er kleidete sich in das Licht und schuf die Welt. Aus dem »Wer?« (mi), dem unbezeichenbaren Gott, wurde der erkennbare Gott, Eloha; so dass die Verbindung beider, des ungeoffenbarten »Wer?« (mi), mit dem geoffenbarten Gott, »Eloha«, den Namen »Elohim«, »Gott« geben. Eine andere Stelle hat darüber:: »Gott, der Alte der Alten, der Geheimste der Geheimen, der Verbor­genste der Verborgensten, hat sich dar­gestellt und veranschaulicht, ist erkenn­bar (durch seine Werke), aber auch (in seinem absoluten Sein) unerkennbar.« Ferner: »Die Schöpfung war, damit Gott als Herr und Beherrscher erkannt werde; ER, der Stamm und die Wurzel der Welt.« Deutlicher: »Bevor Gott ein Bild oder eine Gestalt geschaffen, war er allein, unerfasslich, erhaben über jede Vorstellung. Erst nach der Schöpfung des oberen Menschen hatte Gott eine Merkaba (sinnbildliche Offenbarungs­gestalt, Wagen), auf die er sich nieder­ließ; er wollte in dieser Gestalt erkannt werden; er wollte, dass man ihn nach seinen Eigenschaften erkenne; daher die Gottesnamen >EI<, >Elohim<, >Schaddai< u. a. m. Gleichwohl hüte man sich, Gott an sich mit der in seinen Werken geof­fenbarten Gottesgestalt gleichzuhalten. Gott an sich ist und bleibt unerkennbar. Wehe dem, der Gott seinen Eigenschaf­ten gleichsetzt! Viel weniger darf er mit dem Menschen, dem irdischen und sterblichen, verglichen werden, weil un­sere Vorstellung nicht über die Schöp­fung hinausgeht.« Wir hätten in diesen Aussprüchen noch ganz die biblische Lehre von der Erkennbarkeit Gottes, wenn dieselben nicht die in die Welt ge­offenbarte Gottesgestalt, nicht wie die Bibel als Reflex der Gotteseigenschaf­ten, sondern als eine wirkliche Aus­strahlung, ein emaniertes Gotteswesen, eine geistige Potenz, »den oberen Men­schen« oder »den Wagen«, Merkaba bezeichneten. Hiermit geht die Kabbala über die Bibel und den Talmud in dem größten Teil seiner Lehren hinaus, die von einer Trennung der Gotteseigen­schaften von Gott als ausgestrahlte, handelnde, geistige Gottespotenzen nichts wissen wollen; sie hat den Weg der jüdischen Philosopheme des Neu­platonismus betreten, den sie nicht wie­der verlässt und der sie, wie wir dies in der Darstellung der philonischen Philo­sophie nachwiesen, antijüdisch machte. Nur will die Kabbala Gott weder als die Gesamtheit der Wesen, noch für die Summe der in der Weltleitung sich of­fenbarenden Gottesattribute gehalten wissen (siehe weiter). Mit diesem Schritt erlangte sie allerdings den Vorteil, dass sie die Vermenschlichung Gottes in der Bibel und im Talmud, sämtliche An­thropophormismen und Anthropopa­thismen in diesem Schrifttum nicht bild­lich aufzufassen braucht, sondern sie auf die erste ausgestrahlte Gottespo­tenz, die erste Sephira, als Inbegriff aller übrigen Sephiroth und des aus seiner Absolutheit getretenen und sich verkör­perten Gottesteils bezieht. »Dem Un­endlichen, en sof, lehrt sie, kann man gar keine Eigenschaften beilegen«; »Überall, wo Gott geistige Bezeichnun­gen beigelegt werden, beziehe man die­selben auf die Sephiroth. « Diese so zur Welt getretene Gotteswesen führt daher, wie bereits oben erwähnt, den Namen »Oberer Mensch« oder »Himmlischer Mensch«, auch »Weisheit«, eine Benen­nung, unter der sie dieses Gotteswesen als den Weltenschöpfer und Weltenlen­ker handelnd auftreten lässt. Mehrere Lehren sollen uns diese Idee veranschau­lichen. Wir bringen von denselben: »Die Gestalt des Menschen ist das Abbild al­les dessen, was im Himmel oben und auf der Erde unten ist (Mikrokosmos), darum hat sie der Alte der Alten zu sei­ner eigenen Gestalt gewählt.« Ferner: »Keine Gestalt, keine Welt konnte vor der menschlichen Gestalt da sein, denn sie enthält alles; was da ist und besteht, besteht nur durch sie.« »Wäre nicht sie, so wäre auch keine Welt«, denn so steht es geschrieben: »Mit Weisheit, Choch­mah, hat der Herr die Erde gegründet. « Doch unterscheide man den oberen Menschen von dem unteren Menschen, denn dieser würde ohne den anderen nicht bestehen können. Auf dieser Men­schengestalt beruht die Vollkommenheit des Glaubens von allen Dingen; sie ist jene Menschengestalt, die der Prophet Ezechiel über dem himmlischen Wagen gesehen, auf welche sich Daniel 7. 13 bezieht: »Und ich sah mit den Wolken des Himmels eine menschenähnliche Gestalt kommen, sie gelangte zum Al­ten an Tagen und man brachte sie vor ihn. « Weiter ging die anthropomorphis­tische Mystik, welche die menschliche Gestalt auch in ihrer leiblichen Beschaf­fenheit als Abbild für die göttliche, als den Gott der Offenbarung, aufstellt. Die Kabbala verwirft dieses Verfahren mit ihrer vollen Entschiedenheit. Mit den Worten in 5. M. 27. 15: »Fluch dem Manne, der ein Bildnis, ein gegossenes Bild macht, ein Gräuel des Ewigen, auch sollte er es geheim halten. Das ganze Volk antwortet darauf: Amen!«; den Vortrag einleitend, lässt das Buch Sohar den R. Simon ausrufen: »Zeit ist für Gott zu schaffen, denn sie haben deine Lehre zerstört, die obere Lehre, die ver­nichtet ist, wenn nicht gehörig mit dem Namen (Bezeichnung) in Bezug auf den Alten an Tagen verfahren wird«; ferner: »Ihr habt keine Gestalt gesehen, als der Herr mit euch sprach (5. M. 4. 15); es ist verboten, für Gott eine Gestalt oder eine Zeichnung zu entwerfen, auch nicht für seinen heiligen Namen usw..; ferner: »Wehe dem, der ihn selbst mit seinen eigenen Attributen vergleicht, ge­schweige mit denen eines Menschen. — Man muss ihn erhaben über alle Ge­schöpfe und alle Attribute denken.« Die dennoch in dem Schrifttum des Talmud und Midrasch sich vorfindenden An­thropomorphismen mit ihren Ausläufen in das berüchtigte Schiur Koma, Maß­bestimmung Gottes, werden für bildli­che Redeweise gehalten und erklärt. So gilt der Kopf des Menschen als Bild der höchsten Weisheit; sein Gehirn, der Sitz des Nervensystems, von wo aus die Nerven den ganzen Körper durchzie­hen, als Bild der Emanation aus Gott, der Stätte des Ursprungs und Mittel­punktes der göttlichen Potenzen, der Sephiroth zur Weltschöpfung und Welt­leitung; seine Haare, die vom Kopfe ausgehen, bezeichnen die verschiedenen Weisheitswege; seine Stirn als Bild der Gnade, wie bei deren Offenbarung Wohlwollen und Güte herrschen; das Gesicht die Bezeichnung der durch die Sephiroth geoffenbarten Gottesgestalt, wobei unterschieden wird: 1. das Ge­sicht des Unendlichen, als Bild des gött­lichen Urwesens; 2. das kurze oder kleine Gesicht, als Bezeichnung der Ur­potenzen aus Gott, der Sephiroth in ih­rer Gesamtheit, und 3. das lange Ge­sicht, die Urpotenzen in Verbindung mit dem ihnen zugewendeten göttlichen Einfluss. Zu solchen symbolischen Ge­stalten werden auch die anderen Teile am Menschen, als z. B. der Bart, die Oh­ren, die Augen, die Nase u. a. m. Es fehlt daher auch hier nicht an poeti­schen bildlichen Schilderungen von Gott und seiner Weltregierung, als z. B.: »Er sitzt auf einem Funkenthrone, den er seinem Willen unterwirft; ein weißes Licht strahlt über hunderttausend Wel­ten. Dieses Licht wird das Erbe der Ge­rechten in der zukünftigen Welt sein.«

B. Göttliche Urkräfte, Sephiroth. Die Lehre von den göttlichen Urkräften, den Sephiroth, findet sich nicht in der anthropomorphistischen Mystik, sie ist das Eigentum der Kabbala, ihre eigen­tümliche Lehre, wie sie sich als spekula­tive Geheimlehre kennzeichnet. Einen Vorläufer hat sie, wie schon erwähnt, nur in der philonischen Philosophie und in den sich ihr zuneigenden Aussprü­chen im Schrifttum des Talmud und Mi­drasch, doch fehlt es ihr nicht in der Weiterentwicklung ihrer Lehren an ge­wissen Merkmalen, wie sie sich von ihr unterscheidet.

a. Urpotenzen, Wesen und Ur­sprung. Die strenge Scheidung zwischen dem Materiellen und Geistigen hat auch in der Kabbala, wie bei Philo, zur An­nahme von Mittelwesen zwischen Gott und Welt geführt. Dieselben sind geis­tige Urpotenzen, göttliche Urkräfte, die in der philonischen Philosophie »Lo-goi«, Urideen, Ur- und Musterbilder heißen, aber bei den Kabbalisten »intelligible Wesen« oder »Sephiroth«, leuchtende Strahlen, Ausstrahlungen genannt und als die erschaffenden und in der Welt wirkenden Urkräfte darge­stellt werden. Neben dieser Bedeutung, die in beiden Systemen den Urkräften beigelegt wird, gelten sie in der Kabbala noch besonders als die Ursubstanz der Schöpfung. Mit dieser Angabe weicht die Kabbala von dem philonischen Sys­tem ab, sie verwirft die noch bei Philo zur Geltung gekommene heidnische An­nahme eines außer Gott vorhandenen Urstoffes und wird so biblischer und konsequenter. Dagegen ist sie unklar und schwankend in den Lehren über die Entstehung und den Ursprung dieser göttlichen Urkräfte, Sephiroth, ob sie als wirklich aus Gott emanierte Wesen und Gottesteile, oder nur als durch den Akt der Schöpfung hervorgegangen zu betrachten sind. Dieses Unklare und Unbestimmte in dieser Vorstellung fin­det sich schon im Jezirabuch, aber noch mehr im Sohar, der Bibel der Kabbalis­ten, was später zu Meinungsverschie­denheiten und zu Spaltungen in den kabbalistischen Schulen führte. Es ist möglich, dass sie auch diese Darstellung des philonischen Systems, welche die Urkräfte eine Emanation aus Gott nennt, als antibiblisch verwerfen wollte, aber dasselbe wegen der daran sich knüpfenden anderen Lehren, als z. B. der von der Seele des Menschen, die sie als wirklichen Teil des Gotteswesens hält, nicht durchführen konnte. Eine dritte Abweichung bemerken wir in der weitern Darstellung der Zahl und Wirk­samkeit der Urkräfte. Wir sprechen weiter von diesem eigenen Weg der Kabbala und führen jetzt die betreffen­den Stellen im Soharbuche selbst an. »Als der Verborgenste alles Verborgens­ten sich offenbaren wollte, machte er erst einen Punkt (Bezeichnung der ers­ten Sephira als die Ursubstanz); es war sein eigener Gedanke. Er schuf einen Entwurf, eine Zeichnung aller Gebilde, eine geheimnisvolle Gestalt, entsprun­gen seinem Gedanken, — den Anfang des Weltbaues, bestehend und nicht be­stehend (d. h. im Keime).; Gott hieß noch das unbekannte »Wer?«, (mi). Er wollte sich weiter offenbaren, um einen bestimmten Namen zu haben; er um­hüllte sich in das Lichtgewand (den Ur­punkt) und schuf das All. Beides, der Entwurf und die nach demselben voll­zogene Schöpfung gaben ihm den Na­men »Elohim«, Gott. In diesem Stücke werden die Urkräfte nicht als emaniert, sondern geschaffen gedacht. Ebenso in einem andren: »Wie die Wassermasse des Sees erst dann eine fassliche Gestalt und Form annimmt, wenn sie sich über die Erde weiter verbreitet, so dass die Urquelle des Meeres die erste Form, der von ihr ausfließende Wasserstrahl die Zweite, die Ansammlung desselben in dem großen Behälter (Gefäß, Bassin), wo er sich in sieben Ströme teilt, die Dritte ist und alle zusammen zehn For­men sind, so hat die Ursache aller Ursa­chen die zehn Sephiroth geschaffen«. Hierher rechnen wir noch die vielen Stellen im Sohar, wo von einer direkten Schöpfung der Welt durch Gott gespro­chen wird, oder wo die Ausdrücke »schaffen« oder »machen«, in den An­gaben über die Entstehung der Schöp­fung vorkommen. Dagegen geht die Emanationstheorie aus mehreren andern Stellen klar hervor. Wir bringen von denselben: »Als er, Gott, sich ge­staltete, brachte er neun Lichter hervor, die von seinem Glanz leuchten und nach allen Seiten sich ausbreiten. Wie die Strahlen eines Lichtes nach allen Seiten ausstrahlen, die sämtlich im Lichte ih­ren Ursprung haben, so haben die neun Lichter nur in Gott ihren Ursprung und Ausgang. Alle sind eins; sie bilden die Stufen, in denen sich Gott offenbart.« Ferner: »Zuerst zeichnete sich der Wille des Königs in das obere Licht. Ein star­ker Lichtstrahl entwand sich dem Ge­heimnisse des Unendlichen und drang in das Allerverborgenste.« Ferner: »Du selbst bist in ihnen (den Sephiroth), und da du in ihnen weilst, so bleibt ihre Harmonie unzerstörbar. Wer sich die­selben getrennt vorstellt, dem wird es angerechnet, als teile er deine Einheit (die Gotteseinheit).« Ebenso: »Gott sprach, es werde Licht! «, d.i. das Licht, das längst da war. Dieses Licht ist ein verhülltes Geheimnis, es kommt von dem geheimen oberen Prinzip. Der Un­endliche hat den Urpunkt aus seinem Prinzip hervorgehen lassen, aus dem das Licht sich entwand, das ist das Licht, das längst da gewesen. Rechnen wir hierzu noch die Stellen, wo die biblischen Gottesnamen auf die Sephiroth bezogen werden, und die Lehren, wie man die Gebete an sie richten und in denselben an sie denken soll, so ist un­leugbar, dass das Soharbuch, die Bibel der Kabbalisten, die Sephůoth als wirk­liche aus Gott selbst hervorgegangene Urkräfte hält, somit neben der bibli­schen Schöpfungstheorie auch die anti­biblische Emanationstheorie lehrt. Die Folge dieser Zweideutigkeit im Sohar war, wie bereits erwähnt, die heillose Verwirrung und Meinungsspaltung bei den Kabbalisten. Indessen bemerken wir diese Schwankungen schon bei den Kabbalisten in der vorsoharitischen Pe­riode. So war von R. Eleasar aus Worms bekannt, dass er die Göttlichkeit der Se­phiroth in Abrede stellte und sie als ge­schaffene Wesen hielt, dagegen hat Nachmanides entschieden die Sephiroth als wirkliche integrierende Teile Gottes gehalten. Ebenso klagt Abraham Abu­lasia über die Unklarheit in den Lehren von Sephiroth bei den Kabbalisten sei­ner Zeit: »Sie wissen nicht, worauf sie die Sephirot zu beziehen haben, ob auf leibliche Wesen oder Geister oder intel­ligible Substanzen, die aus Gott ema­niert sein sollen.« Er schließt die Pole­mik, dass die Kabbalisten bei Benennung der ersten Sephira durch »Urwille« nicht den Mut hatten, dieselbe bestimmt als von ewig her in Gott oder als ge­schaffen zu bezeichnen. In der nachso­haritischen Zeit vernehmen wir im fünf­zehnten Jahrhundert von Salomo ben Scheschet in seinen Responsen dieselbe Klage: »Sie verstehen nicht das Wesen der Sephiroth zu bezeichnen, ob sie Ei­genschaften Gottes, oder Gottesnamen, oder gar aus Gott emanierte Urkräfte sind.« Die Meinungsverschiedenheit darüber herrschte noch unter den Kab­balisten des siebzehnten Jahrhunderts. Aus dem vierzehnten Jahrhundert nen­nen wir Abraham ben Deor, der Jün­gere, der in seinem Kommentar zum Je­zirabuch das Dogma der Schöpfung aus nichts auf die Emanation der Sephiroth aus Gott, dem der Name »das Nichts« wegen der Unergreifbarkeit seines We­sens zugeschrieben wird, bezieht, somit die Sephiroth als wirkliche aus Gott emanierte Kräfte hält. Deutlicher spricht das Buch »Maarchoth Elohim« S. 43 und 57 es aus: »Die Sephiroth sind wirkliche Gotteswesen. « Ebenso spricht sich David Abbi Simra, Verfasser des »Migdol David«, für die Göttlichkeit der Sephiroth aus. Dagegen stellen Re­kanati (1280) und Juda Chajut (1490) entschieden die Göttlichkeit derselben in Abrede. Eine vermittelnde Richtung schlugen Isaak Luria (1534 — 1572) und R. Moses Korduero (1522 — 1570) in ihren Schriften ein, nach denen Gott in den Sephiroth zwar gegenwärtig sei, aber nicht in ihnen verharre, so dass er über, aber nicht außer denselben sei. Doch es half nichts, der Streit wurde da­durch nicht beigelegt. Joseph Karo, ein Zeitgenosse Lurias, lehrte, wie zuvor, die Sephiroth seien integrierende Teile des G0tteswesens Ihm schlossen sich Kandia (1591 bis 1657) und Jrera (s. weiter) an. Ersterer bekämpft noch die Halbheit der anderen Kabbalisten, die nicht damit übereinzustimmen geneigt sind: »Wozu alsdann die Benennung Azilut-Welt, d. h. Emanationswelt als Bezeichnung der ersten drei Sephiroth« (s. weiter). Mit ihnen stimmt auch der gelehrte Kabbalist und Rabbiner Jesaja Horwitz in seinem Buche Selah u. a. m. Es versteht sich, dass wir auch Gegner derselben zu verzeichnen haben. Gegen Jrera schrieb Moses Sakut (1640). Noch wurde ein Weg zum Ausgleich gefun­den. Der Verfasser des Buches Emunoth Chachamim Absch. 23 vergleicht die Sephiroth zu den Sonnenstrahlen und meint, wie diese unleugbar von dem Wesen der Sonne ausgehen, aber doch nicht selbst die Sonne sind, so verhält es sich mit den Sephiroth und der Sche­china. Ein Zweiter, Moses Iserles (1570), geht noch weiter und erklärt, die Sephiroth seien nichts mehr als Be­nennungen der Gotteseigenschaften, wie sie nicht an und für sich sind, son­dern wie sie in der Weltschöpfung und Weltregierung Gottes zum Vorschein kommen und schon in der Bibel genannt werden, eine Äußerung, die auch im S0-har ihre Vertretung hat und schon (im neunten Jahrh.) in den Responsen des Hai Gaon erwähnt wird.

b. Akt des Hervorganges der göttli­chen Urkräfte, der Sephiroth. Zwei Frage waren, die in der Lehre von dem Akt des Hervorganges der Sephiroth zur Erörterung kamen und zur genaue­ren Bestimmung der Angaben darüber führten: 1. Setzt nicht der Entschluss, eine Schöpfung hervorzubringen, — eine Änderung der bisherigen Gesinnung in Gott voraus? Und doch soll Gott unver­änderlich sein? 2. Wie ist neben dem Unendlichen das Endliche denkbar? Schließt doch der Begriff des Daseins des Unendlichen jedes Dasein des Endli­chen aus, oder deutlicher: wenn Gott unendlich ist, woher der Raum für das Endliche? Von diesen Fragen kam die erste in der alten Schule, die mit Moses Korduero ihren Abschluss hatte, zur Be­antwortung, während mit der Zweiten sich die neue Schule, die mit Isaak Luna eröffnet wird, beschäftigte. Die alte Schule beantwortet nach den Lehren des Soharbuches die erste Frage dahin, dass es der Wille Gottes war, in die Er­scheinung zu treten und bekannt zu werden. Dieser Wille ist jedoch kein ur­plötzlicher und neuer, er setzt keine Ver­änderung im Gotteswesen voraus, s0n­dern ist mit Gott selbst urewig; er heißt daher bei seinem Hervortreten »der Ur­wille«, und bildet die erste Daseinsform, die erste Sephira. Die Stelle darüber aus dem Soharbuch haben wir bereits oben gebracht. Die zweite Frage gab die An­regung zur Aufstellung eines neuen Lehrsatzes. Die Kabbalisten schreiben die Autorschaft desselben Isaak Luria, dem Begründer der neuen Schule, zu. Er ist unter dem Namen »das Geheimnis der Selbstbeschränkung oder Selbstzu­sammenziehung Gottes«, die Konzent­ration Gottes in und auf sich selbst be­kannt. Nach demselben hätte Gott seine unendliche Wesenheit auf oder in sich zurückgezogen, beschränkt, um eine Erscheinung von sich zu ermöglichen. Die Kabbalisten nennen diesen Akt die erste Konzentration in sich selbst. Das Bild dafür ist ein Spalt, Riss, in einem Gefäße, um die darin befindliche Sache sehen zu können, ohne dass in der Sa­che selbst eine Änderung einzutreten braucht. Diese erste Konzentration in ihrem Resultat heißt »Luft!«, auch »Licht«, das durchsichtige Element, durch welches die Erscheinung in der Möglichkeit da war. Um diese Erschei­nung aus der Möglichkeit in die Wirk­lichkeit treten zu lassen, geschah eine zweite Konzentration, eine Zurückzie­hung der unendlichen Wesenheit Gottes in sich selbst, um einen leeren Raum zu lassen. So entstand ein von der Unend­lichkeit Gottes selbst ausgehender Raum, in den ein Strahl des Unendli­chen drang, als Keim der zu entstehen­den Schöpfung. Es hat das Unendliche die Existenz des Endlichen selbst ge­setzt. Um diesen Akt fasslich darzustel­len, weisen sie auf die Methode des Weisen hin, der, um seine Lehren den Minderbegabten mitzuteilen, den ei­gentlichen Kern seiner Idee bis Seite schiebt, um eine Einkleidung für sie zu schaffen. Hat er diese Einkleidung ge­funden, so muss er sie der Fassungsgabe seiner Zuhörer anpassen, jedoch darauf bedacht sein, dass ein Funken dieser tie­fen Idee durchschimmere, damit die Schüler auch von dieser Idee außer die­ser Einkleidung eine Ahnung haben. Bei all dieser Operation bleibt die Idee bei ihrem Autor selbst unverändert. Diese Einkleidung ist selbst ein Schattenabriss der Idee, wo sie in jedem Satze durch­schimmert. Indessen ist diese Lehre von der Konzentration Gottes nicht so neu, wie man glaubt. Von einer Beschrän­kung Gottes als Bild für die Möglichkeit der Anwesenheit (Wohnen) Gottes im Tempel spricht schon der Midrasch. Er lässt diese R. Mair, einen Lehrer des zweiten Jahrh. n., aussprechen. Auch die Valentinische Gnosis soll die Idee der Selbstbeschränkung Gottes zu ihrer Unterlage haben. Doch stieß diese Lehre nach ihrer wörtlichen Auffassung auf starken Widerspruch bei den späteren Kabbalisten, man erklärte sich entschie­den gegen sie, und will sie nur als eine Metapher gelten lassen. Noch Jakob Emden (1750) versucht derselben eine andere Deutung zu geben.

c. Gestalt, Zahl, Einteilung, Ge­samtdarstellung, Bedeutung und Bild. Wir sind jetzt bei den Angaben der Kab­bala über den eigentlichen Akt der Ema­nation, die Entstehung und Gestaltung der Sephiroth nach ihren verschiedenen Abstufungen. Ältere Parallelen zu ihnen haben wir, wie schon erwähnt, in den Lehren der philonischen Philosophie so­wie in denen der Systeme der Gnostiker, von denen das gnostische System des Basilides der Kabbala am nächsten steht. Die Hauptstelle darüber ist im So-har II. 42b mit dem Bilde von der Ur­quelle eines Meeres, dem Ausströmen aus derselben, dem Meere und den sie- ben Strömen aus ihm. Wir haben von derselben die Hälfte schon oben zitiert und bringen jetzt die andere. Dieselbe lautet: »So hat die Ursache aller Ursa­chen die zehn Sephiroth gebildet. « Er, die Krone, die Urquelle alles Seienden, dessen Lichtstrahl unendlich ist, daher sein Name »Unendlicher«, eine Bezeich­nung, die nur Gott zukommt, daher sie die späteren Kabbalisten in »Licht des Unendlichen«, umgewandelt haben. Da ist weder Form, noch Gestalt; es gibt weder Mittel, noch eine Weise, ihn zu begreifen. Forsche nicht nach dem, was dir zu erhaben ist. Daraus machte er ein kleines Gefäß, ein Jod, welches die flie­ßende Quelle der Urquelle ist; er nannte sie »Weisheit«, Chochmah, nach der er selbst »Weiser« genannt wird. Das Dritte, welches er nun bildete, war ein großes Gefäß; es war das »Meer«, das er »Vernunft«, binah, nannte; er selbst hat daher den Namen »Vernünftiger«, mebin. Das Meer teilte sich in sieben Ströme, für welche er sieben kostbare Gefäße anfertigte; sie heißen: 1. die Größe, gedulah; 2. die Macht, geburah; 3. die Pracht oder Schönheit, Tiphereth; der Triumph oder Sieg, Nezach; 5. die Hoheit, hod; 6. die Basis 0der der Urgrund, jessod und 7. das Reich, die Regierung oder die Vorsehung, Gottes­gegenwart, malchuth. Gott hat sie sämt­lich in seiner Gewalt; er kann nach Wil­len die Einströmung in diese Gefäße vermehren oder vermindern. Diese hier genannten zehn Sephiroth erhalten noch verschiedene Einteilungen, die eine Klassifikation nach dem Grad ihrer Ab­stufungen bilden. Schon in dieser Auf­zählung bemerken wir zwei Hauptklas­sen, die Drei ersten werden von den Sieben folgenden unterschieden, jene bilden die Ursubstanz, aus der diese hervorgegangen. Es ist die erste Klassifi­kation derselben, nach welcher die ers­ten drei »die Sephiroth der Welt«, aber die anderen sieben »die Sephiroth des Baues«, sephiroth schel binjan« heißen. Eine weitere Einteilung unterscheidet in den Sephiroth drei Abteilungen zu je drei Gliedern, von denen jede mit ihren drei Gliedern gleichsam Satz, Gegensatz und Bindeglied bilden. So werden die aus der ersten Sephira, der Krone, her­vorgegangenen zwei Sephiroth als zwei entgegengesetzte vorgestellt; die Weis­heit, chochmah, ist das aktive, das männliche, spendende Prinzip; die Ver­nunft, binah, das passive, das weibliche oder empfangende Prinzip; beide haben in einer der Krone substituierten Sephira (eigentlich keine Sephira), der Erkennt­nis, daath, ihren Vereinigungspunkt. Diese Gegensätze heißen auch Abba, Vater, und ema, Mutter, als die Erzeuger alles Daseienden (Sohar III. S. 290a). Spätere denken sich dieselben als Ursa­che und Wirkungen nach Analogie in der Erscheinungswelt als Grund alles Entstehens. In der zweiten Abteilung stehen sich die Prinzipien des strengen Rechts, din, und der Gnade, chesed, einander gegenüber; sie heißen die zwei Arme Gottes, die eine mit Leben und die andere mit Tod, die in einem Dritten, dem der Herrlichkeit, Tiphereth, ihre Vereinigung, das Bindeglied, haben. Die Dritte endlich hat den Sieg, Nezach, und die Hoheit, hod, als Gegensätze, die in dem dritten, gemeinsamen Prin­zip, in der Basis, Jesod, der Wurzel alles Daseienden, dem Grund, ihre Vereini­gung finden. Diese alle werden von der zehnten Sephira beherrscht, die den Namen »das Reich«, malchuth, die Harmonie, führt. Man hat auch das charakteristische jeder Abteilung ge­nau bezeichnet und dieselbe danach be­nannt. Der Neuplatonismus unterschei­det seine Äonen oder göttlichen Ur­kräfte nach einer Dreiteilung: die des Verstandes, der Seele, und der Natur. Diesem analog kennt auch die Kabbala die angegebenen drei Klassen der Sephi­roth und belegt sie mit ähnlichen Na­men. Die erste Klasse heißt in Betracht ihrer hohen Stellung und ihrer rein geis­tigen Lichtsubstanz die intelligible Welt, oder die Welt des Verstandes; sie stellt die Identität des Denkens und Seins dar; die Zweite: die wahrnehmbare Welt, die Welt des Gefühls, oder deutlicher die Welt der Seele, die den Übergang vom Sein zum Werden bildet, und die Dritte: die Naturwelt, auch physische Welt, olam mutba. Eine weitere Darstellung hebt aus dieser Klassifikation die Mit­telglieder hervor: 1. die Krone, kether, als die einheitliche geistige Substanz der metaphysischen Gegensätze; 2. die Herrlichkeit, Tiphereth, der höchste Ausdruck der moralischen Kräfte, der Vereinigungspunkt der Gegensätze in der Welt des Übergangs v0m Denken zum Sein, und 3. das Reich, malchuth, oder die Basis, Jesod, als Bindeglied zwischen den Gegensätzen in der Na­turwelt und bezeichnet dieselbe als die mittlere Säule, Amuda de Enzeutha. Ein weiters Versteigen der Kabbalisten bil­den die Angaben über die Gestalt und Stellung der Sephiroth, wofür sie zu verschiedenen Bildern ihre Zuflucht nehmen. Einige denken sich dieselbe gradlinig, ähnlich den gleichlaufenden Punkten. Andre sphärenartig, im Bilde von konzentrischen Kreisen um einen Punkt, als ihr gemeinsames Zentrum. Die Dritten stellen sie im Bilde des menschlichen Körpers dar, sodass der K0pf die Krone, Kether (erste Sephira); das Gehirn, die Weisheit, chochmah (zweite Sephira); das Herz, der Ver­stand, binah (dritte Sephira); die zwei Arme das strenge Recht, din (die vierte Sephira); und die Gnade, chesed (die fünfte Sephira), deren Mitte als Vereini­gung beider Rumpf und Brust: die Herr­lichkeit 0der Schönheit, Tiphereth usw. darstellen. Die Vierten nehmen für die Stellung der Sephiroth das Bild des Baumes. So wird von einem kabbalisti­schen Baum gesprochen. Weiter spricht man von einer rechten Säule, welche die Säule der Gnade heißt; ferner von einer linken Säule, als der Säule des strengen Rechts, und endlich von der schon ge­nannten mittleren Säule. Nach dieser Vorstellung geschieht die Zeichnung der Stellung der Sephir0th: a. rechts in einer senkrechten geraden Linie: 1. die Weisheit, chochmah; 2. die Gnade, chesed und 3. der Sieg, Nezach; b. links eben­falls in senkrechter, grader Linie: 1. der Verstand, binah; 2. das strenge Recht, din und 3. die Hoheit, hod; c. in der Mitte: 1. die Krone, kether, etwas 0ber­halb, über alle anderen; 2. die Herrlich­keit oder die Schönheit, Tiphereth, und 3. die Basis, Jesod, und endlich am Fuße als der Boden für alle: das Reich, mal­chuth. Spätere rechnen als hierher gehö­rig noch die Kanäle, die Leitungsorgane des göttlichen Segens, deren Zahl un­nennbar ist. Wir würden den Kabbalis­ten Unrecht tun, wenn wir bei dieser Aufzählung und Detaillierung der Se­phiroth stehen bleiben, da sie bei dem Leser den Eindruck eines leeren Phanta­siespieles von sich hinterlassen würden. Als Gegenstück dazu bringen wir n0ch die verschiedenen Bilder über die Be­zeichnung der Gesamtsephiroth, denen wir nicht einen erhabenen Geistes­schwung absprechen werden. Die Se­phiroth in ihrer Gesamtheit werden bald als das Urlicht oder das Lichtge­wand G0ttes, bald als ein Teppich, bald der himmlische, obere Mensch, 0der der v0rweltliche Mensch, ferner als Zu­sammenfassung der in der Bibel genann­ten Gotteseigenschaften bezeichnet. Wir lesen über ersteres: »Erst zeichnete sich der Wille des Königs in das Licht. Ein starker Lichtstrahl entwand sich dem Geheimnisse des Unendlichen und drang in das Allverborgenste. Er drückte Formen in das Formlose.« Ferner: »Es werde Licht!«, d.i. das Licht, das Gott erst geschaffen, in dasselbe zeichnete er die Figuren der Schöpfung ein. Von dem zweiten Bilde, von dem Lichtgewand, heißt es: »Gott bekleidete sich mit ei­nem kostbaren Lichtgewand und schuf die Welt, eine Bezeichnung, der wir schon bei dem Psalmisten begegnen: »Er hüllte sich in das Licht, wie in ein Gewand«, und die von den Talmudisten als Angabe der geistigen Substanz zur Weltschöpfung angegeben wird. Das Soharbuch hat darüber ähnlich wie in Daniel das Bild: »Der Alte der Alten, der Verborgene unter den Verborgenen, durch seine Werke erkennbar, und nicht erkennbar. Sein Kleid ist weiß, sein Aus­sehen das eines verhüllten Gesichtes. Das weiße Licht bringt Welten hervor und wird der Lohn der Gerechten in der Zukunft sein.« Das dritte Bild für die Sephiroth ist das eines Teppichs. Die Stelle darüber ist: »Bevor der Alte der Alten die königliche Gestalt der Krone, der ersten Sephira, bildete, da breitete er einen Teppich aus und in ihn zeich­nete er die Könige (die Welten) ein.« Das vierte Bild endlich lautet: »Die Ge­stalt des Menschen ist das Urbild der obern und untern Dinge, welche in ihm enthalten sind, und weil dieses Urbild die Obern und Untern in sich darstellt, hat der heilige Akte diese Gestalt zu sei­nem Bild gewählt.« Wie dieselben end­lich identisch mit dem Gottesnamen ge­halten werden, verweisen wir auf »Gottesnamen« in diesem Artikel.

d. Ihre Einheit und Zusammenge­hörigkeit. Die Lehre von der Einheit der Sephiroth untereinander sowie in ihrer Beziehung auf Gott — bildet in der Kab­bala einen wichtigen Punkt, deren fass­liche Darstellung durch verschiedene Bilder versucht wird. Uns ist dies ein Be­weis, dass die Sephirothlehre der Kab­bala weder dem Parsismus, der zwei getrennte Urprinzipien lehrt, noch dem Neuplatonismus, der bekanntlich eine Materie bei der Schöpfung annimmt, angehört, sondern ihre Theorien, wenn auch dem philonischen System entnom­men, sich eigenartig auf jüdischem Bo­den ausgebildet und weiter entwickelt haben. Das Soharbuch hat darüber: »Wer eine Einsicht in die heilige Einheit haben will, betrachte eine Flamme, die aus einer Kohlenglut oder einer bren­nenden Lampe sich erhebt. Er sieht erst zweierlei Licht, ein hellweißes und ein schwarzes oder blaues, das weiße Licht ist oben und erhebt sich in grader Linie; das blaue und dunkle Licht unten scheint der Stuhl des ersten zu sein, beide sind dennoch so eng miteinander verbunden, dass sie nur eine einzige Flamme ausmachen. Der Stuhl jedoch, der das blaue oder dunkle Licht bildet, ist wieder mit der brennenden Materie verbunden, die noch unter ihm ist. Das weiße Licht wechselt nie seine Farbe; es bleibt immer weiß; in dem Lichte aber, das unten ist, kommen mehrere Schat­tierungen zum Vorschein. Das untere Licht nimmt ferner zwei entgegenge­setzte Richtungen an; es ist oben mit dem weißen Lichte und unten mit der brennenden Materie verbunden. Diese verzehrt sich und das untere Licht steigt immer mehr zum oberen empor. So ist alles zu einer Einheit verbunden. « In ei­nem anderen Bilde versuchen sie die Einheit der ersten drei Sephiroth, als die geistige Ursubstanz, für die anderen nachzuweisen. Dasselbe lautet: «Der Gedanke ist das erste alles dessen, was da existiert; aber ist als solcher ver­schlossen und unbekannt. Doch sobald derselbe sich ausbreitet, kommt er da­hin, wo er zu Geist wird, d. h. er be­kommt lebende Gestalt, wird zu leben­digem Ausdruck, er heißt alsdann binah, Verstand! « Der Gedanke ist nicht mehr, wie früher, in sich verschlossen. Der zu Geist gewordene Gedanke geht weiter und wird zur Stimme, d. h. kleidet sich in »Worte«. Es sind also drei Stufen: Gedanke, Verstand, Stimme oder Wort. Doch sind alle drei eins. Der Gedanke ist der Anfang von allem, in dem keine Trennung stattfinden kann. — Ein ande­res Bild darüber ist: »Die drei ersten Se­phiroth: die Krone, kether; die Weisheit, chochmah, und der Verstand, binah, bilden eine Einheit. Die erste ist die Er­kenntnis, das Wissen; die zweite der Wissende und die dritte das Gewusste. Diese drei sind nur beim Menschen ver­schieden und getrennt, denn bei ihm ist das Wissen unterschieden vom Subjekte des Wissens und erstreckt sich auf das Objekt, das wieder vom Subjekte unter­schieden wird. Die Bezeichnungen dafür sind: das Denken, der Denkende und das Gedachte. Aber bei Gott, der nicht sein Denken auf anderes außer ihm richtet, weil alles in ihm ist, indem er sich nur sieht und kennt, kennt und sieht er auch alles, was ist; Gott ist der Typus alles Wissens, aller Wesen. So ist die Form alles Seins in der Welt von den Sephiroth und die der Sephiroth in der Quelle, aus der sie fließen. Endlich brin­gen wir noch die Darstellung der Ein­heit der Sephiroth mit Gott. Die Lehre darüber im Soharbuch lautet: »Der Alte, dessen Name geheiligt werde, ist mit drei Köpfen, d. h. offenbart sich in drei Urprinzipien, die jedoch nur einen bilden. Dieser eine ist der Erhabenste aller Erhabensten. So wird der Alte, dessen Name geheiligt sei, durch die Zahl >drei< bezeichnet, ebenso werden die anderen Lichtet die übrigen Sephi­roth, in die Zahl >drei< zusammenge­fasst; drei Köpfe, Urprinzipien, gehören zueinander. Der eine ist die geheime, verdeckte Weisheit, die nie unverhüllt ist (Bezeichnung der Sephira cochmah); sie ist das Urprinzip, der Kopf aller an­deren Weisheit. Über ihm ist der Alte, dessen Name geheiligt sei, die Krone (die erste Sephira). Endlich ist ein Kopf (Urprinzip), der alle andren beherrscht, ein Kopf, der eigentlich keiner ist. Nie­mand weiß, was er enthält; er ist erha­ben für unsere Beschränktheit. So wird er unerforschbar, das 'Nichts<, ge­nannt«; ebenso: »diese drei Lichter (die ersten drei Sephiroth), strahlen ihr Licht drei andren zu, deren Väter sie sind. Doch erhalten sie alle ihr Licht von ei­nem Orte. So der Alte, der Wille aller Willen, sich offenbart, leuchten sie alle. Alle werden in eine Gesamtheit ge­bracht.« Man spricht weiter von drei Prinzipien in Gott, den Alten der Alten: Vater, Mutter und Sohn, oder Weisheit, Vernunft und Erkenntnis, chochmah, bina und daath; doch hat man darunter, wie dies im Texte ersichtlich ist, nicht »Gott an sich«, sondern den Gott in der Offenbarung, die Krone, zu verstehen, was mit der Trinität des Christentums, wenn das hier derselben • noch so sehr ähnlich klingt, nichts zu tun hat. Im Christentum bezieht sich bekanntlich die Trinität auf Gott, von dem Christus einen Teil oder eine Person bildet, aber nicht auf Christus. Wir heben dies mit Nachdruck hervor, um den vielen Miss­verständnissen in Bezug auf diese und andere Stellen im Soharbuche, dass sie die Trinität des Christentums lehrten, vorzubeugen. Eine Stelle aus dem So­harbuche setzen wir noch hierher, die uns dies klar machen soll: »Der Alte, der Greis der Greise, die obere Krone (die erste Sephira), von der alle Lichter (die Sephiroth) ihr Licht erhalten, dieser Alte hat die Häupter (Urprinzipien), die zusammen eins sind.« Da der Alte, der Heilige, durch drei bezeichnet wird, so bilden auch die anderen Lichter (Sephi­roth) Dreiheiten. Wiederum bezeichnet man den Alten (die Krone) mit zwei: Krone und Gott, der nicht erkannt wer­den kann. Daher auch die anderen Lich­ter, die Sephiroth, durch zwei Haupt­teile unterschieden werden. Endlich wird der Alte nur durch eins angegeben, er ist eins (die Krone) und macht nur eins aus, so bilden auch die anderen Se­phiroth nur eine Einheit. Man könnte also höchstens sagen, die Kabbala lehre die Trinität der ersten Sephira, der Krone, die allerdings in der Kabbala gleich dem Demiurgos der Gnostiker als Gott, der Weltschöpfer, Welterhalter und Gesetzesoffenbarer an Israel be­zeichnet wird. In den späteren Aus­wüchsen der Kabbala, als z. B. bei Sab­batai Zevi, und früher bei Abraham Abulasia, welche sich als die Verkörpe­rung der ersten Sephira (der Schechina) hielten und so sich für den Messias, den Gottmenschen, den vorweltlichen Men­schen, Adam Kadmon ausgaben, spricht man allerdings von einer Gottestrinität, aber diese Trinität ist nicht des absolu­ten Gottes, des »Gottes an sich«, son­dern des der ersten Sephira als des geof­fenbarten Gottes — im Sinne des kabbalistischen Begriffs von Gott, der Teilung Gottes —, die ganz und gar von der Trinität im Christentum verschieden ist. Aber auch in Bezug darauf ließe sich nach dem eben zitierten Soharstück ebenso sagen, die Kabbala lehre neben der Dreiheit auch eine Zweiheit und eine Einheit der ersten Sephira, des zur Welt getretenen Gottes, des geoffenbar­ten Gottes.

e. Namen, Bezeichnung, Wesen, Rangordnung und Bedeutung der Se­phiroth. Die göttlichen Urkräfte, als die Mittelwesen zwischen Gott und Welt, werden bei den Neuplatonikern bald durch »Äonen«, ewige Kräfte, und bald durch »Dynameis«, wirkende Kräfte, »nichts«, Namen, die sonst nur Gott beigelegt werden, aber in beschränktem Sinne auch die erste Sephira, als den Emanantor der anderen Sephiroth be­zeichnen soll. Entschieden wird daher vor Verwechslung oder Identifizierung dieser Sephira mit »Gott« gewarnt, und als Verirrung der Israeliten bei der An­fertigung und Verehrung des goldenen Kalbes bezeichnet: »Der Unendliche, en sof, ist nicht die Sephira kether (Krone), aber der Erzeuger derselben.. Ob wir unter dieser ersten Sephira den Logos der philonischen Philosophie, oder den Demiurgos der Gnostiker zu verstehen haben und sie mit demselben identifizie­ren können? Zur Beantwortung dieser Frage bemerken wir, dass in den sohari­tischen Angaben über sie allerdings Ähnlichkeit zwischen beiden sich her­ausfinden ließe, die jedoch von der ei­nen Angabe aufgewogen werden, dass sämtliche Sephiroth, also auch die erste, der adam kadmon, in Abhängigkeit von Gott stehen. Ihre Existenz und Tätigkeit beruht nur auf dem Zuströmen der Se­gensfülle von Gott, ohne welche sie ohnmächtig sind. Weder der Logos bei Philo, noch der Demiurgos der Gnosti­ker kann daher mit dem adam kadmon oder adam ilaah, als Bezeichnung der ersten Sephira, identisch gehalten wer­den. Aber leugnen lässt es sich nicht, dass die Idee des adam kadmon dem Logos der philonischen Philosophie ent­nommen ist, aber sie wurde judaisiert, d. h. in mögliche Übereinstimmung mit der Gotteslehre des Judentums gebracht.

Ersteres spricht sich am deutlichsten in der Stelle des Soharbuches aus, wo die Worte in 1. M. 8: »Wir wollen den Menschen machen«, als Anrede an die erste Sephira, die Krone (kether), bezo­gen wird. Der Erhabenste der Erhabens­ten sprach zur Krone (kether): »Lasset uns einen Menschen machen!«, ganz wie Philo diese Anrede auf den Logos bezieht. Auch im Midrasch finden wir dieselbe Auslegung: »Er beriet sich mit seinem obern Himmelsheere.«

f. Tätigkeit. Hier haben wir die Se­phiroth ganz im Sinne der philonischen wirkenden göttlichen Kräfte, mit dem Unterschiede, dass diese selbstständig wirkend sind, aber jene in gewisser Ab­hängigkeit von Gott gedacht werden. »Die Sephiroth in ihrer Gesamtheit sind, da sie den Willen Gottes vollzie­hen, der Thronwagen Gottes, merkaba. Bei jeder Sephira haben wir drei Gestal­ten zu unterscheiden: a. was sie an sich selbst sei; b. was sie von oben empfange, und c. wie sie das von oben Empfan­gene nach unten weiter mitteile. Keine Sephira kann daher allein eine Wirkung hervorbringen, wenn sie dazu nicht von der andern empfangen hat. So ist jede Sephira die Wirkung der vorhergehen­den und Ursache der folgenden in ihrer Tätigkeit. »Sämtliche Sephiroth, heißt es, sind voneinander abhängig, die obe­ren bedürfen der unteren und die unte­ren der oberen.«

C. Die Gottesnamen. Die Gottesna­men bilden einen Hauptbestandteil des Lehrsystems der Kabbala. Die praktische Kabbala hat eine Menge von Leh- ren über die Verbindung und die Tren­nung der einzelnen Buchstaben der Gottesnamen, um daraus neue zu bil­den, worauf sie ihre Kunst der Wunder­tätigkeit gründet. Wir werden hier nur von den wirklichen Gottesnamen in dem Schrifttum der Kabbala sprechen. Die Benennungen für »Gott« in der Kabbala, sowohl für »Gott an sich«, als auch für den Gott der Offenbarung, als den durch seine Werke sich offenba­renden Gott, haben wir schon oben ge­bracht. Es bleibt uns hier noch ihre Deutung der biblischen Gottesnamen zu behandeln übrig. Die Frage über das Verhältnis der Sephiroth zu den Gottes­namen in der Bibel, ob diese identisch mit jenen seien, hat unter den Kabbalis­ten s verschiedene Meinungen hervorge­rufen. Einige stellen eine solche Identität völlig in Abrede, dagegen bringen an­dere sie mit den in 2. M. 34 genannten Gotteseigenschaften: »der Ewige, der Ewige, ist Gott, barmherzig, gnädig, langmütig« usw. in Verbindung. Zwi­schen beiden hat das Richtige Moses Korduero getroffen; er sagt: »Die Sephi­roth und die Gottesnamen in der Bibel, beide sind Namen des Unendlichen, en sof, nach seinen Werken.« Wir heben den Schluss dieses Lehrsatzes hervor, der die Gottesnamen in beiden nicht für Bezeichnungen Gottes an sich, sondern nur Benennungen Gottes, wie er durch seine Werke dem Menschen sichtbar ge­worden, also des geoffenbarten Gottes hält. Die zwei biblischen Gottesnamen: Jhvh, und Elohim, die auch bei Philo ei­ner besonderen Deutung unterzogen werden, sind es hauptsächlich, die eine eingehende Erörterung finden. Die Er­klärung des Gottesnamens »Jhvh« wird nach dessen Umschreibung in 2. M. 3. 14: »Ich bin, der ich bin«, ehje ascher ehjeh, — vorgenommen. Die Stelle darü­ber lautet: »Der Name ehjeh >ich bins bezeichnet alles Seiende in seiner ersten Form, wo die Existenzen verborgen da­liegen und nur im Keime enthalten sind (es ist die erste Sephira, als die erst geis­tige Substanz alles Daseins). Der andere Teil dieses Namens, ascher ehjeh, >der ich bins bezieht sich auf den Zustand des Seienden, wo es im Begriff ist, das in seinem Schoße Verborgene in die Welt zu setzen oder wörtlich: Er bezeichnet die Mutter, die in ihrem Schoße alles trägt und daran ist, sie einzeln zu gebä­ren, um den Namen des Höchsten zu offenbaren. Ist das Dritte eingetroffen, hat sich alles aus dem Schoße des Urseins entwickelt, wird zur Bezeich­nung desselben der Gottesname Jhvh gebraucht.« So bezeichnet der Name »Jhvh« nicht das Sein Gottes an sich, sondern die in den Sephiroth hervortre­tende Gottheit, oder die durch die Se­phiroth in ihrer Gesamttätigkeit sich offenbarende Gottesgestalt. »Nachdem er die Gestalt (den oberen Menschen als Bezeichnung der Gesamtsephiroth) ge­schaffen hatte, war er in sie eingezogen und wurde >Jhvh< genannt.« »Alles ver­einigt dieser Name, alle Sephiroth sind in ihm enthalten.« Das daraus möglich sich entwickelnde Missverständnis, als wenn die Kabbala von zwei Gottheiten spreche, von einem ungeoffenbarten und einem geoffenbarten, so dass wir etwa den in den Sephiroth sich kundge­benden Gott als einen zweiten Gott zu betrachten hätten, wird von vornherein entschieden bekämpft und der Glaube daran als heidnisch und als die Sünde der Israeliten am goldenen Kalbe darge­stellt. »Keine zwei getrennten Gott­heiten! Die Sephiroth bilden kein Gott­heit, keine selbstständig wirkenden Mächte, sondern stehen in Abhängig­keit von Gott, von dem ihr Dasein ab­hängt; sie machen mit ihm eine Einheit aus«, war ihre oft wiederholte Lehre, gewiss gegen die Logoslehre Philos und die des Demiurgos der Gnostiker. Diese Vereinigung Gottes mit der Welt, als das Zusammentreten und Zusammenwir­ken desselben mit ihr, findet die Kabbala in der Bedeutung des zweiten oben ge­nannten Gottesnamens »Elohim«. Der­selbe wird als eine Zusammensetzung von mi, »wer?« der Bezeichnung des »Gottes an sich«, des Gottes vor der Schöpfung, und eleh, »diese,« d.h. die Schöpfung, gehalten, so dass beide zu­sammen: das mi und das eleh, d. h. der Gott an sich und die Schöpfung — den Namen »Elohim« geben und das Zu­sammentreten und Zusammenwirken Gottes mit der Welt, d. h. mit der Ema­nationswelt, bedeutet. Wir können nicht umhin, noch auf andere hierher gehö­rende Soharstellen aufmerksam zu ma­chen, die scheinbar den Trinitätsglauben lehren und auch dafür von christ­licher Seite ausgegeben werden, aber im Grunde grade das Gegenteil davon dar­tun, gegen jede Teilung der Gottheit in mehrere Personen, als z. B. des Gottes an sich und des der Sephiroth, ähnlich dem Logos der Alexandriner oder dem Demiurgos der Gnostiker, auftreten und nachdrücklichst den Monotheismus be­tonen. Wir bringen von denselben: »Und sie sprachen zu ihm, er hat gesagt: Zwei sind es und eins vereinigt sich mit ihnen, da sind es drei. Da sie drei geworden, sind sie eines (d. h. gewannen sie ihre Einheit). Die zwei sind die zwei Namen in dem Einheitsbekenntnis, Schema: >höre Israel, Jhvh Elohenu (unser Gott), ist Jhvh der eine< (5. M. 6. 4), nämlich >Jhvh< (Bezeichnungen in der Kabbala des in den Sephiroth hervortretenden Gottes, oder des durch die Welt zur Er­scheinung getretenen Gottes), aber Elo-henu (von Elohim, ein Gottesname, der nach oben angegebener Bedeutung das Zusammentreten und die Verbindung des Gottes an sich, des absoluten Got­tes, mit dem in den Sephiroth bezeichnet) zwischen beiden — verbindet sich mit ih­nen; es ist das Siegel, dessen Inschrift: >Wahrheit< ist. So man diese verbindet, sind sie eins in völliger Einheit.« Man sieht, dass in dieser Stelle gegen die An­nahme: der Gott der Sephiroth sei ein zweiter Gott, der von dem absoluten Gott unterschieden werden soll, als wenn es zwei Gottheiten gäbe, einen oberen Gott, der sich um die Welt nicht küm­mert, und einen unteren Gott, dem die Weltschöpfung und Weltregierung über­geben ist, angekämpft wird. Eine andere Stelle tut dies noch deutlicher, indem sie den Ausspruch in 5. M. 4. 35: »Dir ist es gezeigt worden, dass Jhvh (der Ewige) Elohim (Gott) ist, im Himmel oben und auf der Erde unten sonst keiner«, zur Unterlage ihrer Betrachtung macht, und die Thora im Sinne des Logos der Alex­andriner als das Werkzeug zur Schöp­fung nennt, mit der ausdrücklichen Be­merkung, dass nicht der Thora, dem Logos, sondern Gott die Weltschöpfung zugeschrieben werden darf; sie polemi­siert also gegen den Logosglauben der Alexandriner, oder gegen die Vorstel­lung der Gnostiker von ihrem Demiur­gos, die ihn zum zweiten Gott machen.

D. Die Weltschöpfung. In den Leh­ren von der Weltschöpfung tritt die Kabbala in ihrer ganzen Eigentümlich­keit, wie sie sich von den ihr ähnlichen Theorien in dem Neuplatonismus und Gnostizismus unterscheidet und in ih­rem jüdischen Gepräge erscheint, oder wie sie die von außen aufgenommenen Philosopheme über Gott und Welt zu judäisieren, d. h. in Übereinstimmung mit dem Judentume zu bringen suchte. Die Lehre von der Weltschöpfung aus Nichts, das Dogma des Judentums in seinem Unterschiede vom Heidentum, verstand Philo, bei all seiner noch so sehr großen Anhänglichkeit am Judentum, nicht zu erhalten; er ließ es in sei­ner Schöpfungslehre fallen und nahm gleich Plato einen vorweltlichen Urstoff an. Die Kabbala kehrte zur jüdischen Lehre von der Schöpfung aus Nichts zu­rück; sie lässt eine geistige Substanz, eine Lichtsubstanz, als Urstoff aus Gott emanieren, oder wie andre glauben, durch Gott erschaffen. Das »Etwas aus Nichts« die Bezeichnung der Schöpfung aus Nichts, wird dahin erklärt, dass Gott, der nach oben auch »Nichts« heißt, das Nichts sei, aus dem die Welt erschaffen wurde. Diese aus Gott ema­nierte oder durch Gott geschaffene Ur­substanz, als der Urstoff zur Weltschöp­fung, wird durch »Urpunkt« bezeichnet, worunter man einen hellen Lichtstrahl versteht. Dieselbe besaß den Keim zu allen Gewalten der Welten und Wesen, hatte die Typen für die hervorgehende Schöpfung. In dieser Gestalt wird sie bildlich ein Teppich genannt, auf dem die Figuren für die zu erschaffende Welt eingezeichnet waren; ferner das Licht­gewand Gottes, in das er sich hüllte und nach allen Seiten das Licht ausstrahlen ließ. Die ideale Welt war da, sie erhält den Namen »der vorweltliche Mensch« oder »der obere Mensch«, eine Bezeich­nung, die sich schon bei den griechi­schen Philosophen findet: »Der Mensch ist die Welt im Kleinen«, »Mikrokos­mos«. Dieses Bild erhält hier zur nähe­ren Angabe: »Die Gestalt des Menschen ist die, welche die Oberen und Unteren in sich fasst.« Die Schöpfung geht aus ihr durch Ausstrahlungen in verschiede­nen Abstufungen hervor, die sich eben­falls durch Ausstrahlen zu weitern Krei­sen entfalten, die ihr Geistiges allmählich verdichten und sich hinab bewegen, bis sie zu etwas Stofflichem werden. Im Ganzen werden solche vier große Ab­stufungen, vier Welten mit je zehn Se­phiroth, angenommen; die Letzte brachte unsere Welt hervor. Dieselben sind: 1 die Welt der Emanation, olam haaziloth, die Ursubstanz mit ihren neun Ausstrahlungen, neun Urkräften, neun Sephiroth, die mit ihr zehn sind; 2. die Welt der Schöpfung, olam habriah, eine aus ersterer hervorgegangene zweite Welt, als eine weitere Emanati­onsabstufung; 3. Welt des Bildens, olam hajezira, und 4. die Welt der Vollbrin­gung oder der Tat, olam haassiah. In Bezug auf die vier Hauptgestalten in der Theophanie Ezechiels, wo: 1. das göttli­che Menschenbild die höchste Gestalt; 2. der Thronwagen die zweite Gestalt; 3. die Chajoth die dritte Gestalt und 4. die Ophanim die vierte und niedrigste Gestalt bilden, werden obige vier Wel­ten auch genannt: 1. die Gestalt . des oberen Menschen, als die Welt der Ema­nation oder der Sephiroth; 2. der Thron, als die Welt der Schöpfung; 3. die Engel, als die Welt des Bildens, und 4. die Klip­poth, die Schalen, oder das Materielle, als die Welt der Wirklichkeit, olam haassiah. Ein erklärendes Bild darüber geben mehrere Stellen aus dem Sohar­buch: »Der unteilbare Urpunkt, der grenzenlos ist, auch wegen seiner Helle für den Menschen unfassbar wird, ver­breitete sich nach außen und bildete eine Helle; es war die Helle des unteil­baren Punktes. Diese Helle, obwohl nicht so lichtvoll wie der Punkt, konnte doch nicht betrachtet werden. Sie ver­breitete sich weiter nach außen und diese Ausdehnung wurde ihr Kleid. So entstand alles durch weitere Bewe­gung. « Ein anderes Bild darüber lautet: »Erst war der Gedanke, derselbe entwi­ckelte sich zum Geist, der Geist zur Stimme. Die Stimme hat zu ihren Be­standteilen: Feuer, Wasser und Luft, die Seiten: Osten, Westen, Süden und Nor­den..

E. Die Welt, Urwelten, das Böse. Auch hier geht die Kabbala ihren eige­nen Weg, wie sie sich von den Lehren Philos und der Gnostiker unterscheidet. Im Gegensatz zu den Lehren derselben, welche die Welt als einen Abfall und Werk der Sünde und des Fluches dar­stellen, lehrt sie, dass, wenn Gott der Urgrund alles Seins ist, das Sein auch ein Segen, das Gute und die Vollkom­menheit sein müsse. »Das erste Wort der Schöpfungslehre heißt: Bereschith, dieses B, am Anfange desselben deutet das Wort »Beracha«, Segen, an; »die Welt sei ein Segen.« »Nichts ist in der Welt absolut böse, nicht einmal der Erz­engel des Bösen, das giftige Tier; in der Zukunft werden auch die bösen Engel ihre Engelnatur wieder erhalten.« Eine zweite Lehre war, dass sämtliche Wesen in der Welt, als Ausdruck der göttlichen Idee, die Formen der höchsten Weisheit an sich tragen und somit in bester Voll­kommenheit geschaffen sind. Sie drückt dieses durch den Lehrsatz aus: »Der Heilige, gepriesen sei er, hatte mehrere Welten geschaffen und zerstört, ehe er diese Welt hervorgebracht. Bevor dieses letzte Werk geschaffen war, waren alle Gegenstände der Welt, vor ihrem Ein­tritt in die Welt, in ihrer wahren Gestalt schon Gott gegenwärtig«, denn also heißt es: »Was da war, wird wieder sein, was geschehen ist, wird wieder gesche­hen.« Also wird die untere Welt als Ab­bild der oberen gehalten; alles, was sich auf der Erde findet, hat ihre geistige Wurzel oben. Doch lässt sich nicht leug­nen, dass die weitere Verfolgung und Ausbeutung dieser Lehren auch zu ver­schiedenen Verirrungen führte, welche die Auswüchse der Kabbala bilden. Ihre Darstellung, welche in der Welt und in ihren Wesen nur eine Verkörperung der Gottesideen, eine Allegorie der höchs­ten Weisheit sieht, führte in weiterem Verfolg zur Astrologie und Physiogno­mik. Man hielt die Sterne als symboli­sche, allegorische Gestalten für das himmlische Alphabet, die in verschiede­nen Konstellationen die Beschlüsse Got­tes den Menschen verkünden. Ebenso gab man sich Mühe, aus den verschie­denen Gesichtszügen auf die Geistesbe­schaffenheit des Menschen zu schließen. Auch die Chiromantie, die aus den Li­nien und Strichen der Hand dem Men­schen seine Geschicke prophezeit, hat hier ihren Ursprung. Eine fernere Ab­weichung waren ihre Lehren von der Unvergänglichkeit der Welt und ihrer Wesen, die aus der Schöpfungstheorie, der Emanationslehre, gefolgert wurde. »Nichts in der Welt geht verloren, nicht einmal der Hauch aus dem Munde, auch dieser hat, wie jedes Ding, seine Stelle und seine Bestimmung«; ferner: »Alle Dinge, aus denen die Welt besteht, der Geist und der Körper, kehren zu ih­rem Prinzip, zu ihrer Wurzel, zurück. Er, Gott, ist der Anfang und das Ende aller Stufen in der Schöpfung, sie alle tragen sein Siegel; er, Gott, kann nur durch die Einheit bezeichnet werden; er bleibt eins trotz der unzähligen Gestal­ten, die in ihm sind!.

F. Das Böse, Urböses, Schalen, Klip­poth, Dämonen, böse Geister, Reich des Satans. Über die Entstehung, den Ur­sprung des Bösen, hat die Kabbala drei Theorien. Die eine findet den Ursprung des Bösen in der Materie, in Folge ihrer Entfernung vom göttlichen Lichte; die Zweite gründet den Ursprung des Bösen auf die Annahme von erst erschaffenen, aber wegen ihrer Mangelhaftigkeit wie­der zerstörten Welten (siehe weiter) und die Dritte endlich bringt die Entstehung des Bösen mit der Lehre der neueren Kabbalisten von dem Bersten der Sephi­roth in Verbindung. Nach ersterer lehrt sie, je weiter die aus Gott emanierte, oder, nach anderen, die geschaffene Substanz sich von ihrem Urquell, dem göttlichen Lichte, entfernt, desto mehr materialisiert sie sich und wird schlech­ter, d. h. ihr geistiges Lichtwesen nimmt ab, verdunkelt und verdichtet sich zur Materie. Diese Entstehung der Materie ist zugleich die Genesis des Bösen. »Oben, am Lebensbaum«, heißt es, »gibt es keine fremden Schalen, Klip­poth, Böses, aber am Baum unten gibt es fremde Schalen«; ferner: »Oben, bei dem Göttlichen, gibt es keine Schalen, denn vor dem König erscheint man nicht gehüllt in Sack, aber unten gibt es Schalen«; »Da ist die böse Magd, die Zerstörerin der Welt, die Rute Gottes zur Bestrafung der Schuldigen.« Das Böse entsteht hier in Folge des Mangels an Licht; es liegt also in der Materie we­gen einer Ermangelung des Lichts; es involviert den Begriff der Beschränkt­heit, der Trägheit und der Unvollkom­menheit, die beim Mangel des Lichtes eintritt. Wir würden hier ein Herüber-streifen in den Parsismus erkennen, der das Reich der Finsternis dem des Lichts entgegenstellt, wenn nicht auch der Neuplatonismus die Materie als etwas Böses und Sündhaftes bezeichnete. Die zweite Theorie, welche das Böse von den zerstörten Welten ableitet, die Got­tes Beifall nicht hatten und beseitigt wurden, gründet sich auf den kabbalis­tischen Satz, dass in der Welt nichts ei­ner völligen Vernichtung anheim falle. Im Zusammenhang mit dieser Lehre ist die der neueren Kabbalisten von dem Bersten der Gefäße, der Sephiroth, von deren zerbrochenen Schalen das Böse abstamme. Wir erinnern auch an die Sage der jüngeren Agada von dem Ab­fall der Engel, aus denen die bösen Dä­monen hervorgingen, eine Angabe, die auch von christlicher Seite zitiert und im Buche Henoch ihr Heimat hat. Mit den Klippoth, Schalen, als Benennungen der lichtentfernten Materie, werden die Dämonen, böse Geister, identisch gehalten. Im Gegensatz zu den Engeln, die von der Materie, dem Materiellen, auf­steigen, sind die Dämonen, die in das Materielle hinabsteigen, hinabsinken. Dieselben sind die gröbsten und man­gelhaften Gestalten, »Schalen«, alles, was des intelligenten Lebens bar ist. Auch sie bilden zehn Sephiroth, zehn Abstufungen nach den verschiedenen Klassen ihrer Entfaltung in immer tiefer hinabsinkende Unreinheit, die zusam­men im Gegensatz zu den Lichtsephi­roth »Sithra Achra«, die andere Seite, die Gegenseite hießen. Die Lehre darü­ber lautet: »Wie es eine Welt der Heilig­keit gibt, so auch eine der Sündhaftig­keit, der Unreinheit; wie es heilige Namen gibt, so auch unheilige, un­reine.« Diese Namen der zehn Sephiroth der Dämonen werden dem jeder Sephi­raklasse vorstehenden bösen Dämon entnommen und sind: 1. Samuel, 2. Asael, 3. Anpiel, 4. Sareil, 5. Katriel etc. Man bezeichnet sie auch durch die drei in 1. Mos. 21. bei der Schilderung des Urzustandes der Welt vorkommenden Namen: »tohu, bohu und Choschech«, Öde, Leere und Finsternis, zu denen noch als die folgenden sieben die »sie­ben Hallen der Unreinheit« (siehe Mys­tik) gerechnet werden. Samuel ist das Haupt derselben, zu ihm gehört auch ein weibliches Prinzip, die Buhlerin, die zusammen »das Tier« bilden. In ihrer Gesamtheit machen sie das Reich des Satans, die Herrschaft Samuels aus. Die Frevler in der Bibel, als z. B. Kain, Pha­rao, Esau u. a. m. werden mit den Klippoth identifiziert. Über die anderen Themen der Kabbala, als z. B. Engel, Engelklassen, Mensch, Seele, Seelen­wanderung, Triebe, böse und gute, Freiheit, Bestimmung, Schriftdeutung, schriftliches und mündliches Gesetz, Kultus, Opfer, Tempel, Synagoge, Exil, Erlösung, Messias, Messiaszeit, Messi­aswerke, Messiasperson, Sünde und Erbsünde, Buße, Messiasreich, Vorse­hung, Welterhaltung, Weltregierung, Weltende, Zukunft, Welt, jenseitige, bitten wir, um jede Wiederholung zu vermeiden, den Artikel »Sohar« nach­zulesen.

III. Geschichte, Entstehung, Gestal­tung und Entwicklung. Über den Ur­sprung und die Entstehung der Kabbala machen sich verschiedene Meinungen geltend. Die einen suchen ihren Anfang schon in der mosaischen und vormosai­schen Zeit, und halten sie als eine Urof­fenbarung an die Frommen derselben. Andere dagegen stellen das hohe Alter der Kabbala völlig in Abrede und be­trachten ihr ganzes Gebäude für ein Phantasiegebilde jüdischer Gelehrten des zwölften und dreizehnten Jahrhun­derts gegen die von den Juden gepflegte, die Gesetze und Lehren des Judentums verflachende Philosophie dieser Zeit. Die Dritten finden für sie Anknüpfungs- punkte in der talmudischen Geheim­lehre, und in den ihren Lehren ähnli­chen Philosophemen des Alexandrismus, des Neuplatonismus und des aus ihm sich entwickelnden Gnostizismus. Wir sehen von diesen Annahmen ab und fassen nach unserer Darstellung in den Artikeln »Geheimlehre« und »Mystizis­mus« die Kabbala als die dritte Ent­wicklungsgestalt der Geheimlehre des Judentums, welche die talmudische Ge­heimlehre und den Mystizismus der nachtalmudischen Zeit bis zum zehnten Jahrhundert, als die zwei frühren Ent­wicklungsgestalten, zu ihren Vorläufern hat, sie voraussetzt, in ihnen wurzelt, aber von ihnen ganz und gar verschie­den ist und über sie weit hi-nausgeht. Dreimal, zu drei verschiedenen Zeiten, sah sich das Judentum durch die auf es einstürmenden fremden Geistesmächte zur Zurückziehung und zu einer in ge­heimen Kreisen festeren Gestaltung, ge­wissermaßen auch zu einer Umbildung und Sicherstellung seiner Theosophien veranlasst. Der Zusammenstoß des Griechentums mit dem Judentum in der vor- und nachmakkabäischen Zeit, der erst eine gewaltsame Unterdrückung des Judentums versuchte, aber bald, als ihm dieses misslungen war, durch seine Philosophie mit einer Nivellierung sei­nes Bodens vorging, war der Grund, dass die Altnationalen, die Chassidäer, sich zu einem Bund vereinigten (s. Chas­sidäer), aus deren Mitte allmählich eine eigene Theosophie, die talmudische Ge­heimlehre, hervorging. Die älteren Tra­ditionen, die hier verarbeitet wurden, oder zu Anknüpfungspunkten für ihre Lehren dienten, waren die biblische Gottes-, Geister- und Schöpfungsdar­stellungen. Zwei Richtungen machten sich unter ihnen geltend, eine, die an thropomorphistische, welche auf die wörtliche Auffassung der in der Bibel vorhandenen Gottes- und Geisterdar­stellungen ihre Geheimlehre aufbaute; die andere, die spekulative, die unter dem Einflusse und nach dem Muster der alexandrinischen Philosophie sich einer allegorischen Deutung des Schrift­verses bediente und einen mehr freieren Weg einschlug, unter deren Lehren auch alexandrinische Philosopheme in einer mehr judaisierten Form Aufnahme fan­den. Von den Männern der ersten Rich­tung sind die anthropomorphistischen Vorstellungen von Gott, seinen Eigen­schaften und der Geisterwelt; die Dar­stellungen Gottes in der Mitte der Engel und Geister gleich einem großen König auf hohem Throne, umgeben von sei­nem Hofstaat; ferner die Schöpfungs­theorien, die Gott zum unmittelbaren Werkmeister machen, die abenteuer­lichsten Messiaserwartungen, das Mes­siasreich, die Messiasgestalt usw.; ferner die Lehren vom Geiste Gottes, dem hei­ligen Geiste u. a. m. Die Lehrer der zwei­ten Richtung sprechen gleich den Alex­andrinern von Ausstrahlungen aus Gott oder nehmen Urstoffe an, lassen Gott nicht unmittelbar mit der Welt in Be­rührung treten, halten die Offenbarung an Moses als durch einen Engel (Meta-tron) geschehen u. a. m. Sie erklären sich ausdrücklich gegen jede wörtliche an­thropomorphistische Auffassung der in der Bibel Gott beigelegten menschlichen Eigenschaften, und stellen darüber die Sätze auf: »Die Thora spricht nach der Redeweise der Menschen«; oder: »Die Schrift redet, um es dem menschlichen Ohr verständlich zu machen«; »Es ist dies nur ein bildlicher Ausdruck der Schrift« u. a. m. Unter ihrem Einflusse sind die in den Targumim sich erhalten­den Umschreibungen und Umbildungen aller anthropomorphistischen Ausdrü­cke von Gott und seinen Eigenschaften u. a. m. Freilich ging es dabei nicht ohne Kampf und gegenseitige Befeh­dung ab, die zum endlichen Sieg des Spekulativen und zur zeitweiligen Ver­drängung des mystischen Anthropo­morphismus führte, der sich nur noch im Schoße des Essäismus und in dessen Schrifttum: dem Buche Henoch, dem 4. Buch Esra u. a. m als externe Lehre er­halten konnte. Es geschah dies beson­ders wegen der von dieser Richtung ge­pflegten messianischen Vorstellungen, die zur Zeit der Bildung und Entwick­lung des Christentums auf gewaltigen Widerstand im Schoße des Judentums stießen, von diesem als unjüdisch be­zeichnet und ausgewiesen wurden. Die zweite Entwicklungsgestalt der Geheim­lehre ging aus dem Zusammenstoß des Judentums mit dem Islam im siebenten, achten und neunten Jahrhundert hervor. Das siegreiche Auftreten des Islams in Asien, sein Vordringen bis nach Europa wirkte auf die in diesen Ländern leben­den Juden gewaltig. Neue Messiashoff­nungen wurden rege, Pseudomessiasse sah man da und dort aufstehen, die das jüdische Volk zu seiner alten nationalen Selbstständigkeit erheben wollten. Alte Lehren und Traditionen über Messias, Messiasreich u. a. m. wurden hervorge­sucht, und die halbvergessene, in Paläs­tina seit der Ausbreitung des Christen­tums aus dem Judentum gewiesene Mystik von der Göttlichkeit des Mes­sias, von dem Dienst der Engel, der Macht der bösen Geister usw bildete wieder das Thema geheimer For­schungen. Hierzu kam, dass auch der Koran sich der aus dem Judentum ge­wiesenen mystischen Anthropomor­phismen von Gott, Engeln, Paradies und Hölle bemächtigte, das alles führte das Reich der Mystik mit allen ihren Anthropomorphismen wieder bei den Juden ein, die da ihre weitere Ausbil­dung und Entwicklung erlangt hat. In­dem wir darüber auf die Artikel »Mys­tik« und verweisen, heben wir die dieser Zeit angehörige Schrift: »Mystik des R. Simon ben Jochai« hervor, welche die weitgehendsten Anthropomorphismen hat. Den höchsten Gipfel erstieg dieser eingeführte mystische Anthropomor­phismus im Anfange des neunten Jahr­hunderts, als auch im Schoße des Islams mystisch-anthropomorphistische Sekten auftauchten, die unbedingt auf die Aus­artung des jüdisch-mystischen Anthro­pomorphismus von Einfluss waren. Die Sekte Muschabbiha mit anderen ihr verwandten Sekten lehrten: Gott hat Gestalt und Körper mit Gliedern gleich den Buchstaben des Alphabets. Weiter ging Hischam, der grobsinnliche An­thropomorphist, er lehrte: Gott ist ein Körper mit Teilen; er hat Maß nach seinem Maße; sieben Spangen lang nach seiner eigenen Spange. Es werden Gott sämtliche körperlichen Eigenschaften ohne Zurückhalt zugeschrieben. Gleich diesen grobsinnlichen Anthropomor­phismen im Islam machte sich eine wei­tere Bildung von Anthropomorphismen im Judentum geltend. Die jüdischen Mystiker, die sich damit beschäftigen, hießen: »Gläubige« oder Apokalypti­ker, »Galutjoth« oder »Galutjiten«, Ge­heimnisoffenbarer. Diese waren die Er­finder des berüchtigten Schiur Koma, jener Art, Gott körperlich darzustellen und ihn nach Maß zu bestimmen, einer schmählichen Ausartung des Anthropo­morphismus, welche die reine Gottes­idee in der Bibel völlig verhöhnt. Ob die Araber dieses von den Juden gelernt, wie von arabischer Seite behauptet wird, oder die Juden darin die Araber zu ihren Lehrern hatten, wie jüdische Geschichtsschreiber behaupten, mag dahingestellt bleiben, aber eine gegen­seitige Beeinflussung wird niemand in Abrede stellen können. Übrigens ist es der Araber Makrizi selbst, der die Rab­biniten als die Anthropomorphisten schwächeren Grades bezeichnet. Doch bald weckte dieses Treiben die Mutazi­liten, die islamischen Rationalisten zur Wiederaufnahme ihrer Tätigkeit und die Spekulation stand dem Anthropo­morphismus in der Mystik feindlich ge­genüber. Auf jüdischem Boden waren es erst die Karäer, die als entschiedene Gegner des mystischen Anthropomor­phismus, die mystische Lehre vom Schiur Koma, der Maßbestimmung Gottes, bespöttelten. Aber auch die Rabbiniten blieben nicht zurück; eine gewaltige Opposition regte sich in ihrer Mitte gegen den Anthropomorphismus in der Mystik. Die gelehrten Häupter der Juden im zehnten Jahrhundert: die Gaonen Saadja Fajumi, Scherira und Hai protestieren gegen solche Ausar­tungen der Mystik und erklären den grobsinnlichen, mystischen Anthropo­morphismus als einen Abfall von der reinen biblischen Gottesidee. Der Gaon Saadja Fajumi (geb 892, gest. 942) äu­ßerte sich in seiner Vorrede zu seiner Bibelübersetzung, dass er mit seiner Ar­beit den Ausschreitungen der mysti­schen Anthropomorphisten entgegen­zutreten beabsichtigte, welche die biblischen menschlichen Aussagen von Gott und seine Eigenschaften buchstäb­lich nahmen und so unwürdige Vorstel­lungen von Gott verbreiteten, da sie Gott als körperliches Wesen mit Sinnes­organen u. a. m. bezeichneten. In einer anderen Schrift als Erwiderung auf die Angriffe der Karäer erklärte er, dass die Lehre von der Maßbestimmung Gottes (Schiur Koma) sich weder in der Mischna, noch im Talmud finde, daher die Angabe derselben im Namen des R. Ismael nur ein Pseudum sein könne. Überhaupt, lehrte er, beziehen sich diese und ähnliche Anthropomorphismen im Talmud, als z. B. die Agada von Aka­thriel, der Schechina, die Ismael, der Hohepriester, gesehen und von ihr an­geredet worden sein soll, nicht auf Gott, sondern auf das geschaffene Licht, in welchem er sich zeitweise manifestiere. Auf gleiche Weise erhebt er sich gegen die Lehre von der Seelenwanderung, ei­nen Zweig dieser Mystik (Emunoth we Deoth Absch. 6). Strenger noch lautet der Protest des Gaon Sherira (930 bis 1000), der in einem Rundschreiben an die Gemeinde von Fez mit Nachdruck hervorhebt, dass die in der Mystik Gott beigelegten menschlichen Organe nicht buchstäblich zu nehmen seien sowie die Lehren der Geheimlehre nicht allen mit­geteilt werden dürfen. Klar und be­stimmt ist das energische Wort gegen die Auswüchse der Geheimlehre von dem Gaon Hai, dem Sohne des Gaon Sherira (998 bis 1000), der den ver­meintlichen Erfolg der praktischen Kab­bala durch ihr Amulettenwesen u. a. m. als unwahr brandmarkt. Diese Stimmen gegen die Überhandnahme des mysti­schen Anthropomorphismus standen nicht vereinzelt da, die Geschichte er­zählt uns von der Bildung mehrerer Sek­ten gegen denselben. Wir nennen von diesen die Makarijiten, die gleich Philo in Alexandrien sämtliche Anthropo­morphismen und Anthropopathismen in der Bibel auf einen Engel beziehen und den höchsten Gott gleichsam unbe­zeichenbar halten. Dieser Engel ist der Vermittler zwischen Gott und Welt, der die Schöpfung hervorgebracht, mit Mo­ses gesprochen und das Gesetz geoffen­bart hat. Eine andere Sekte, die Anhän­ger eines Jadaan (Jehuad), führte die allegorische Erklärung der Bibel wieder ein; sie behauptete, die Thora habe ei­nen äußeren und einen inneren Sinn, lasse eine buchstäbliche und eine allego­rische Auffassung zu. So gewann die Spekulation in der Mystik wieder die Oberhand und verdrängte den Anthro­pomorphismus derselben. Die halb mystische, halb philosophische Schrift »Sefer Jezira,« die in dieser Periode plötzlich auftaucht und zum Mittel­punkt der kabbalistischen Forschungen bis über das dreizehnte Jahrhundert hi­naus wird, fasst die Hauptresultate die­ser wiedererwachten Spekulation in der Mystik zu einem Ganzen zusammen und bildet den Schlussstein dieser Epo­che. Dieses merkwürdige, in der neues­ten Zeit noch immer wenig gewürdigte Buch steht an der Grenze der gaonäi­schen Mystik und gab den Anstoß zu einer neuen, dritten Entwicklungsgestalt der jüdischen Geheimlehre, die sich bis auf die Gegenwart in allerdings ver­schiedenen Wandlungen bei den Chassi­däern im Osten Europas erhalten hatte. Das Sefer Jezira ist das erste Buch, wel­ches das in der anthropomorphistischen Mystik gar nicht gekannte und in der talmudischen Geheimlehre höchstens aphoristisch angedeutete Emanations-system mit seinen zehn Sephiroth, zehn Ausstrahlungen, wie es in dem jüdi­schen Alexandrinismus seinen Anfang genommen und in der Kabbala seine weitere Entwicklung gefunden, schon ziemlich ausgebildet und abgerundet lehrt. Aber die Emanationslehre ist es nicht allein, die diesem Buche seine bedeutende Stelle in der Geschichte der jüdischen Geheimlehre anweist, son­dern auch die Art und Weise der Bear­beitung derselben, die einer Verschmel­zung der Spekulation mit der Mystik gleichkommt. Es lässt an der Seite der Emanationslehre eine Art Mystik des hebräischen Alphabets und des heiligen Gottesnamens Jhvh in verschiedener Trennung und Zusammensetzung seiner Buchstaben nebenbei einherziehen, was den Übergang zur dritten Entwicklungs­stufe der Geheimlehre, zur »Kabbala« bildet. Indem wir das Weitere über die­ses merkwürdige Buch auf den Artikel »Sefer Jezira» verweisen, geben wir hier nur als seinen Hauptinhalt die drei Teile seiner Lehren an, die gewissermaßen die Basis der sich nun entwickelnden Kab­bala bilden. Der erste Teil bringt die Lehren von der Emanation und den zehn Sephiroth, den göttlichen Aus­strahlungen, oder den göttlichen Kräf­ten. »Zehn Sephiroth gibt es«, lehrt es, »verstehe sie mit Weisheit und sei weise mit Einsicht; prüfe und forsche, führe alles auf seinen Ursprung zurück und finde für den Schöpfer seinen Platz. Der Herr, Einzige, Gott, König, wahrhaft; er beherrscht alles aus seiner Wohnstätte ewig.« Diese Worte bilden die einleiten­den Sätze zu seiner Emanationslehre. Zur Feststellung des Begriffs der Sephi­roth sagt es: »Beziehe ihr (der Sephira) Ende zu ihrem Anfange, wie eine Flamme an die Kohle geknüpft ist.« Darauf folgt die Emanationslehre selbst. Die erste Ausstrahlung, Sephira, ist der Geist des lebendigen Gottes, aus dem das ganze Universum stufenweise ema­niert wurde. Aus diesem Geiste gingen die drei Urelemente hervor, aus dem Geiste die Luft, aus der Luft das Wasser und aus dem Wasser der Äther. Aus die­sen drei Urelementen, den Grundstof­fen, wurde alles Daseiende geschaffen. Mit der Luft war das Dasein alles Intel­ligiblen, der Lehre, des Wortes, der Be­zeichnung, der geistigen Durchdringung und Erfassung, auch des Alphabets ge­geben. Aus dem Wasser und der Luft ging durch verschiedenartige stufenmä­ßige Verdichtung das Chaos, das Tohu und Bohu, hervor, woraus sich die ma­terielle, sublunarische Welt aufbaute. Endlich ward aus dem Äther die geistige Welt mit den Engeln, dem Gottesthron u. a. m. gebildet. Diesen vier Sephiroth folgten sechs Raumesgrenzen, Bestim­mungen ihrer Ausdehnung nach; er be­siegelte die Höhe nach oben; die Tiefe nach unten; die Ostseite nach vorne; die Westseite nach hinten; den Süden rechts und den Norden links. Der zweite Teil seiner Lehren spricht von dem Bestehen und von der Erhaltung der Welt; er stellt eine Art göttliche Vorsehungslehre fest. Es ist die Lehre von den Gegensätzen und deren Ausgleich, welche die Lehre von der Waage, die in der Kabbala eine bedeutende Rolle spielt, schon enthält. Beispiele von den Gegensätzen und ih­rer Ausgleichung bringt er aus den Er­scheinungen am Himmel, auf der Erde, im menschlichen Organismus, in der Gesellschaft u. a. m., als z. B. Weisheit und Tod; Freiheit und Abhängigkeit, Frieden und Krieg; Schönheit und Häss­lichkeit. Der Ausgleich wird durch das Bild der Waage veranschaulicht, in de­ren eine Schale die Schuld und in die andere das Verdienst gelegt wird, wo die Zunge das Gleichgewicht anzeigt. Ein anderes Bild darüber ist die Sieben­zahl: drei gegen drei und eins vermit­telnd. So kennt es zwölf Organe am menschlichen Körper: drei erzeugen Liebe; drei den Hass; drei bringen Le­ben und drei den Tod, aber sie sämtlich werden durch Gott beherrscht. Der dritte Teil beschäftigt sich mit den Leh­ren der Vergeltung und umfasst einen bedeutenden Abschnitt aus der Ethik. Das Gute, heißt es, steht gegen das Böse und das Böse gegen das Gute; das Gute kommt vom Guten, das Böse vom Bö­sen. Das Gute läutert das Böse, und das Böse das Gute. Für den Guten ist das Gute bestimmt; für den Bösen das Böse. So war die Lehre von der Emanation und den Sephiroth im Judentum hei­misch und bildete den Hauptbestandteil seiner Lehren. Wie verhielt sich dieselbe zur biblischen reinen Gottesidee? Zur Lehre von der Einheit Gottes und der Weltschöpfung in der Bibel? Der Mysti­zismus mit seinem groben Anthropo­morphismus, wie er in der Maßbestim­mung Gottes (Schiur Koma) seinen Gipfelpunkt erreicht, wurde wegen sei­ner Unvereinbarkeit mit der geistigen Gottesvorstellung in der Bibel angefoch­ten, bekämpft und beseitigt, aber ebenso war die Emanationslehre, die nun an dessen Stelle trat, mit derselben unver­einbar, ja desto gefährlicher, denn sie führte zum Pantheismus. Es scheint, dass diese Frage im zehnten Jahrhun­dert noch nicht von den jüdischen Ge­lehrten aufgeworfen wurde, daher nicht zur Erörterung kommen konnte, wie sie später die Gelehrten des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts bewegte und die Angriffe auf die Kabbala hervorrief. Nur das Neue und Fremdartige der Emanationslehre in ihrer schon damals ziemlich ausgeprägten Gestalt fiel auf, worüber der Gaon Hai um Aufschluss gebeten wurde. Er antwortete, dass diese Lehre alt sei und als Tradition sich vererbt habe; man kenne sie unter dem Namen »Weisheit der Kabbala«, Cho­chmath Hakabbala. Es ist das erste Mal, dass die spekulative Geheimlehre, wie sie sich an dem Buche Jezira an­lehnt, unter diesem Namen genannt wird. Sie befindet sich bereits in ihrer dritten Entwicklungsgestalt, zu deren Darstellung wir jetzt übergehen. Ihr Aufbau geschieht, wie wir bereits anga­ben, in den Kommentaren zum Jezira­buch, dessen Aussprüche zur Anknüp­fung ihrer Lehren dienen, aber bald sind es auch selbstständige Schriften, in de­nen die Kabbala sich weiter entwickelt und vollendet. Die erste Epoche dersel­ben beginnt mit dem Kommentar des Saadja Gaon zum Jezirabuch. In dem­selben identifiziert er die in der Bibel oft erwähnte »Herrlichkeit Gottes«, cha-bod elohim, und die dafür im talmu­dischen Schrifttum vorkommende »Schechina« mit dem im Jezirabuch ge­nannten »Geist des lebendigen Gottes«, vermöge dessen Gott in der Schöpfung wirksam ist. Es ist nach ihm eine Luft­strömung, mit der Gott in unmittelbarer Verbindung stehe und durch die er im Weltall wirke und so in allen Dingen ge­genwärtig ist. Dieses Verhältnis Gottes zur Welt ist dem des Geistes zur Seele ähnlich, der der Seele innewohnt, aber doch mehr ist als sie, da er sie leitet. Weiter erklärt er die Allgegenwart Got­tes, weil Gott das Leben und das Wissen der Welt sei. Er will hiermit den Schrift­vers: »Ich, Gott, bin im Himmel oben und auf der Erde unten«; »Alles, was Gott will, tut er im Himmel und auf Er­den«, ganz buchstäblich gedeutet wis­sen. In seinem Buche »Glauben und Wissen«, Emunoth we Deoth, Ab­schnitt 1. 21. polemisiert Saadja gegen die Emanationslehre sowie gegen die oben genannten Emanationssekten, welche die Schöpfung als eine direkte Emanation aus Gott halten. Er lehrt auch eine Emanation, aber nur aus einem geschaffenen Urlichte, nicht di­rekt und unmittelbar aus Gott. Er bleibt bei dieser Polemik nicht stehen; in sei­nem Buche »Glauben und Wissen«, Emunoth we Deoth (Absch. 1), wendet er sich von der Geheimlehre ganz ab. Dagegen blieben die meisten Gaonen nach ihm treue Anhänger derselben. Der bekannteste unter ihnen ist der Gaon Sherira (968 — 998). Er teilt noch ganz den Wunderglauben seiner Zeit und erkennt die angebliche Wundertätigkeit der Adepten der Geheimlehre vollständig an, die er als eine auf Tradi­tionen beruhende Weisheit erklärt. Doch huldigt er neben diesen Aus­wüchsen der Mystik auch schon der spekulativen Geheimlehre, die er zum Unterschiede von der praktischen wun­dertätigen Geheimlehre als die wahre Geheimlehre nicht allen, sondern nur dem Beratenen und Würdigen mitgeteilt wissen möchte. Sonst kennt man ihn ebenfalls als einen entschiedenen Geg­ner des mystischen Anthropomorphis­mus; er lehrte, dass man die biblischen Anthropomorphismen sowie die im Na­men R. Ismaels mitgeteilte Maßbestim­mung Gottes (Schiur Koma) nicht wört­lich, sondern bildlich, allegorisch, deute. Einen überraschenden Fortschritt in dieser Richtung macht dessen Sohn, der Gaon Hai (998 — 1038). Er ist nicht bloß ein entschiedener Gegner der an­thropomorphistischen Mystik, sondern erklärt auch ihre angeblichen Wunder­tätereien als ein Wahngebilde, dem nur Toren Glauben schenken. Ganz ergeben der spekulativen Geheimlehre, versteht er ihre Theorien weiter zu entwickeln. In mehreren Schriften bespricht er die Hauptgegenstände der spekulativen Ge­heimlehre: die Sephiroth, die Gottesna­men, den kabbalistischen Urpunkt und die Symbolik des Jod. Die Zahl »Zehn« der Sephiroth erklärt er als eine Tradi­tion, ähnlich der: »In zehn Worten schuf Gott die Welt«, indessen es doch deren ohne Zahl gibt. Die Einteilung der Se­phiroth ist schon da, wie bei den späteren Kabbalisten, in drei und sieben. Die drei ersten sind die Ursephiroth und heißen: 1. das Licht, Urlicht oder das unerfassbare Licht; 2. die Kenntnis, ähnlich der kabbalistischen Chochmah, Weisheit, und 3. der Verstand. Aus die­sen drei ging die Welt der Geister her­vor. Von den sieben anderen, welche die materielle Welt hervorbrachte, gehören drei nach rechts, drei nach links, zwi­schen denen die siebente Sephira die vermittelnde zwischen beiden ist. Die in 2. M. 32. genannten Gotteseigen­schaften stehen mit den Sephiroth inso­fern im Zusammenhange, dass sie ihre Werke, Erzeugnisse, sind. Auch die Got­tesnamen sind keine Benennungen Got­tes an sich, sondern der Sephiroth, d. h. Gottes, wie er sich durch die Sephiroth der Welt offenbart. So bezeichnet Jhvh die erste Sephira, den kabbalistischen Urpunkt, der durch den ersten Buchsta­ben dieses Namens, durch das Jod, sym­bolisiert wird. Aus der Gaonenfamilie des Hai nennen wir noch eine kabbalis­tische Persönlichkeit, den R. Jekuthiel, von dem sich eine Abhandlung in Emunoth S. 15 vom Schemtob erhalten hat. In demselben verbindet er durch al­legorische Auslegung die kabbalisti­schen Lehren mit der Bibel und den aga-dischen Aussprüchen des Talmud und Midrasch. Diese auf babylonischem Boden empor gekeimten Anfänge der spekulativen Geheimlehre erhielten in anderen Ländern, Spanien, Italien, Deutschland und Frankreich, ihre wei­tere Entwicklung. In Spanien war es im elften Jahrhundert Saragossa, wo der tiefsinnige Ibn Gebirol, Salomo ben Je­huda Gebirol (1037 — 1070) Lehren vortrug, die in den folgenden Jahrhun­derten das System der Kabbala auf­bauen halfen. Dieselben vergleichen die göttlichen Kräfte, Sephiroth, mit der Flamme und die Emanation mit dem Lichte, das dem Auge entströmt, oder mit dem Lichte, von dem sich ein ande­res anzündet, ohne dass ersteres von sei­nem Glanze etwas verliert. Er beschäf­tigte sich viel mit dem Jezirabuch, verarbeitete dessen Lehren in seinen Po­esien und kennt die drei Welten der göttlichen Manifestation in ihrem Ver­hältnisse zur Wertschöpfung. Gott, die Ursubstanz, lehrte er weiter, ist vom Menschen unfassbar; die schöpferische Kraft, bezeichnet durch «den Willen« oder «das Wort«, ruht in ihm. Sie ent­hält die ganze Fülle der zu entstehenden Wesen und gleicht einem unendlichen Licht. Diesem Urlicht entströmen zwei Kräfte, die Wesensform und der We­sensgrund alles Daseienden, die immer mit ihm in Verbindung bleiben. Je wei­ter die Emanation von ihrem Ursprunge sich entfernt, desto mehr verdichtet sie sich und wird ihrem Urquell unähnlich. Zwischen dem Höchsten und dem Niedrigsten in der Schöpfung gibt es Mittelwesen, die allgemeine Weltver­nunft und die Weltseele, der Weltgeist. Die Seele ist ein Teil der Weltseele. Wir verlassen jetzt Spanien und wenden uns nach den anderen Ländern, zunächst nach Italien. Hier hat man sich schon im zehnten Jahrhundert mit dem Jezira­buch beschäftigt. Der Arzt Sabbatai Donolo aus Uras hat dasselbe erklärt. Man kennt ferner einen Kaschischa, an­geblich Abkömmling von den Gaonen in Babylonien; er soll mehrere kabbalis­tische Schriften für seinen Schüler Je­huda aus Korbeil verfasst haben. Von da richtet sich unser Blick auf Deutsch­land. Hier fand noch im zwölften Jahr­hundert die anthropomorphistische Mystik ihre treuen Anhänger. Ein Abu Haran, angeblich Sohn des babylo­nischen Samuel Hanassi oder Hanagid, Lehrer eines in Deutschland eingewan­derten Moses, war der Verpflanzer der Mystik auf deutschem Boden. Bekannt ist das Buch Serubabel, eine Apokalypse aus dieser Zeit, die auf 1063 oder auf 1068 die Ankunft des Messias berech­net; eine wahre Trostschrift für die da­maligen Judenverfolgungen in Deutsch­land. Von ihm kam die Geheimlehre zu Elasar aus Speyer, von da zu Samuel und Jehuda, dem Frommen (i zoo), dessen zwei Söhne Elasar und David dieselbe weiter ausbildeten. Aber schon ersterer, bekannt unter dem Namen Elasar aus Worms (1230 gest.), auch Rokeach (nach seinem Hauptwerke) genannt, war nicht mehr der unbedingte Vereh­rer der ihm überkommenen Mystik. Er bekämpft in seiner Schrift «Einheit und Glaube« recht energisch den mystischen Anthropomorphismus seiner Zeit und lehnt entschieden jede körperliche Vor­stellung von Gott ab, an deren Stelle er die geistige Darstellung Gottes setzt. Sein Kommentar zum Jezirabuch hat eine starke Beimischung von Philoso­phemen, er tritt in ihm offen der speku­lativen Geheimlehre bei. Ebenso äußerte er sich in der Einleitung zu seinem Hauptwerk Rokeach gegen den Anthro­pomorphismus der Mystik. Die Sephi­roth sind bei ihm ganz im Sinne Saadjas, die von Gott geschaffenen geistigen Ur­substanzen, aber keine Wesen von Got­teswesen, keine aus Gott emanierte In­telligenzen (Rekanati Taame Mizwoth S. 33; vergl. Luzzato, das Buch »Vicu­ach« S. 37). Im Ganzen jedoch erken­nen wir in ihm nur den Mann des Über­ganges, der bei aller Mühe sich nicht ganz dieser gaonäischen Mystik abzu­wenden vermochte. Er zeichnet Gott noch immer menschlich, im Bilde eines Königs mit einer himmlischen Hofhal­tung, umgeben von Engelscharen. Auch die Mittel zum Auffinden oder richtiger zum Nachweis mystischer Lehren in der Bibel sind bei ihm noch ganz die der al­ten Mystik: Notarikon, Ziruf und Ge­matrios. Voll dieser Art von Mystik ist sein Kommentar zum Gebetbuch. Ein Zweiter auf diesem Übergang zur spe­kulativen Geheimlehre ist dessen Schü­ler Menachem der Deutsche, Verfasser des Kether schemtob und anderer mys­tischen Schriften. Neben seiner anthro­pomorphistischen Mystik spricht er auch von den zehn Sephiroth, erkennt also schon die Emanationslehre der spe­kulativen Geheimlehre. Der Mann, der entschieden und ganz der spekulativen Geheimlehre, der Kabbala, angehört und somit die zweite Epoche derselben eröffnet, ist: Isaak der Blinde, Sohn des Abraham ben David in Pasquieres (1190—1200). Wir kommen jetzt zu den Juden in Frankreich. Hier war seit Jahr­hunderten der Sitz der anthropomor­phistischen Mystik, der besonders die jüdischen Gelehrten in Nordfrankreich und Lothringen, die Tossafisten, erge­ben waren. Bekannt ist die Anklage des Bischofs Agobards von Lyon gegen die Juden im neunten Jahrhundert, sie glau­ben, Gott habe einen Körper; sie stellen sich ihn in menschlicher, leiblicher Ge­stalt vor. Dasselbe bezeugen Salomo ben Adareth (1235 — 1310); M. Alschkar, Elasar ben Nathan (1170) u. a. m., be­sonders von den Juden in Nordfrankreich. Im zwölften Jahrhundert lebte in Pasquieres der gelehrte Abraham ben David, bekannt als Kritiker des Maimo­nidischen Jad hachsaka. Derselbe wurde von seinem Schwiegervater in die Ge­heimlehre eingeführt; er war in der Mystik heimisch. Wir entnehmen dies seinen Äußerungen in seinen kritischen Bemerkungen an mehreren Stellen zum ersten Teil des oben genannten Maimo­nidischen Werks. Jehuda ben Koreisch, der bekannte Philosoph und Sprachfor­scher im zwölften Jahrhundert, zieht in seiner Schrift (Zunz, Gottesd. S. 396 Note b) gegen die mystischen Anthro­pomorphismen seiner Zeit los. Aber ihn übertraf Maimonides, der in seiner Schrift »More Nebuchim« 1. § 61 u. 62 die Mystik und ihre angebliche Wun­dertätigkeit durch die Amuletten, Kameoth, und die Beschwörung durch Bildung von Gottesnamen bitter be­kämpft. Die Bücher der Mystik nennt er »Bücher der Wahnsinnigen«; ihre Lehren »die Lügen, welche die Toren ersonnen haben«; die angebliche Wundertätigkeit »Wahnsinn der Amulettenschreiber« mit dem Schlusse: »Alle diese Gegenstände sollte kein aufrichtiger Mensch nicht einmal hören, viel weniger an sie glau­ben. « Schärfer noch bekämpfte er in seinen Responsen die anthropomor­phistische Mystik. Im ersten Buche § 8., 9. und 10. lehrt Maimonides: »Gott hat weder einen Körper, noch eine körperli­che Gestalt; die in der Schrift Gott zuge­schriebene menschliche Gestalt und leiblichen Eigenschaften sind bildlich aufzufassen und zu erklären.« Gegen diese Äußerung bemerkt Abraham ben David, dass eine Erklärung der bibli­schen Ausdrücke von der Gottesgestalt: »rückwärts und vorwärts«, Sache der Mystik sei, die nicht allen mitgeteilt werden dürfe. In einer anderen kriti­schen Auslassung gegen den § 7 in Ha­lachoth Teschuba Absch. III., dass der­jenige, der Gott einen Körper oder eine leibliche Gestalt beilegt, ein Ketzer sei, bemerkt er: »Größere und Bessere als Maimonides hingen dieser Meinung an, die sie in den biblischen und talmudi­schen (agadischen) Anthropomorphis­men, welche die Meinungen verderben, bestätigt fanden.« Wir ersehen aus die­sen Kritiken, dass die anthropomor­phistische Mystik noch Anhänger unter den jüdischen Gelehrten des elften und zwölften Jahrhunderts hatte; er selbst jedoch nicht mehr derselben huldigte. Letzteres geht besonders aus seinen Worten hervor: »Welche (die Anthropo­morphismen in Bibel und Talmud) ver­derben die Meinungen.« Abraham ben David war demnach kein Anhänger der anthropomorphistischen Mystik, aber er wollte nicht, dass die Anhänger der­selben als Ketzer gebrandmarkt werden. Dass er ein treuer Jünger der anderen Richtung der Mystik, der spekulativen Geheimlehre gewesen, belehrt uns eine von ihm im dreizehnten Jahrhundert zi­tierte Erklärung einer anthropomor­phistischen Agada: »Gott legt Tephi­lin«, worin der diese und andere ähnliche Aussprüche nicht auf Gott, sondern auf den ihn vertretenden En­gel, den Engel des Angesichts, oder auf ein aus der ersten Ursache emaniertes Himmelswesen bezogen wissen will. Ein solches Himmelswesen gibt er als das göttliche Wesen an, das mit Moses gesprochen; es sei die Menschengestalt über dem Gottesthron in Ezechiel 1. 26. Wir haben hier eine der Grundlehren der spekulativen Geheimlehre, die an die philonische Lehre vom Logos erin­nert und gewiss in ihr ihren Vorläufer hat. Wer »die Größeren und Besseren« gewesen, von denen Abraham ben Da­vid in obigen Kritiken spricht, die der anthropomorphistischen Mystik hul­digten und die er nicht als Ketzer be­handelt wissen wollte, darüber gibt uns die Geschichte seiner Zeit gute Aus­kunft. Es waren dies die meisten Gegner der maimonidischen Schriften, die nach dem Tode Maimonides den Bann gegen seine Schriften schleuderten. Zu densel­ben gehörten die Gelehrten Salomo ben Abraham aus Montpellier mit seinen Jüngern Jona ben Abraham aus Gerona und David ben Saul; ferner viele Rabbi­ner Nordfrankreichs, als z. B. Jechiel ben Joseph aus Paris, der Tossafist Sim-son aus Sens, Meschullam Dasiera aus Südfrankreich u. a. m. Sie gaben aus­drücklich als Grund der Verketzerung der maimonidischen Schriften unter an­deren auch an, weil in ihnen die körper­liche Vorstellung von Gott als ketzerisch bezeichnet und die biblischen Anthro­pomorphismen bildlich zu deuten ge­lehrt wird. Doch war dies nur ein letztes Auflodern dieser mystischen Richtung, die Zeit war eine andere geworden, und die ganze Intelligenz der Judenheit er­hob sich in gerechter Entrüstung gegen diese schmachvollen antijüdischen Leh­ren der anthropomorphistischen Mys­tik; sie wurde durch das energische Ein­schreiten eines Nachmanides, David Kimchi, Salomo ben Adereth u. a. m., denen sich die Gebildeten von Montpel­lier und die Gemeinden von Lünel, Be­ziers und Narbonne angeschlossen, auf immer zum Schweigen gebracht, ja aus dem Judentum als ketzerisch verwiesen. An die Stelle dieser anthropomorphisti­schen Mystik trat nun die spekulative, die unter dem Namen »Kabbala« (siehe oben) sich als »Tradition«, »Überliefer­tes«, im Gegensatz zu der griechischen Philosophie, als die jüdisch-nationale, auf jüdischem Boden emporgewachsene Theosophie ausgab. Es ist die zweite Epoche der spekulativen Geheimlehre; sie hat nichts mehr mit dem mystischen Anthropomorphismus zu tun und will ihr System nur auf der Spekulation, wie sie aus den bei den Juden heimisch ge­wordenen neuplatonischen Ideen her­vorgegangen, aufbauen. Der erste dieser Epoche ist der Sohn des oben genannten Abraham ben David, bekannt unter dem Namen »Isaak der Blinde« (1190 — 1210). Er war ein Jünger des Meschul­lam Sohn Jakob in Lünel. Er vertiefte sich in die spekulative Geheimlehre und wurde ihr Begründer im südlichen Frankreich. Die bedeutendsten Ge­lehrten als z.B. Bachja und Schemtob Ibn Gaon, nennen ihn nicht anders als »Vater der Kabbala«. Seine kabbalisti­schen Lehren, von denen übrigens sich wenige erhalten haben, wurden als die geläutertsten sehr geachtet. »Seine Kab­bala, hieß es, war tief und wie feines Mehl.« Er soll einen Kommentar zum Jezirabuch geschrieben haben. Die Se­phirothlehre erhielt durch ihn die Berei­cherung, dass er Namen den Hauptse­phiroth als z.B. »Krone«, Kether und »Vernunft«, Binah, beilegt; ebenso lehrte er das Dogma der Seelenwande­rung. Er hinterließ zwei treue Jünger: Esra und Esriel (1200 — 1239), die an dem Werke der weiteren Entwicklung der Kabbala fleißig arbeiteten. Beide waren aus Gerona, von denen der ers­tere der Lehrer des berühmten Nachma­nides (s. weiter) wurde. Man kennt ihn ferner als Verfasser eines kabbalisti­schen Kommentars zum Gebetbuch. Mit seinem Freunde Esriel erklärte er auch die Pessachhagada. Esriel selbst machte sich durch die Abfassung eines Kommentars (kabbalistisch) zum Ho­henlied bekannt, aber seine Hauptarbeit war die Schrift »Esrath Adonai«, eine Abhandlung über die Sephiroth in Frage und Antwort. Sie stellt sich die Aufgabe, die Kabbala vernunftgemäß in einem abgerundeten System auch für den Nichteingeweihten, den Nichtkabbalis­ten verständlich darzustellen. Die spe­kulative Geheimlehre oder die mit Phi­losophemen versetzten Traditionen, die Kabbala, sollte an die Stelle der von den gebildeten Juden gepflegten aristoteli­schen Philosophie treten. Die in diesem System dargelegten Lehren waren:

a. über Gott. Gott dürfe man sich unter keinem Attribut denken, da jedes Attribut auf eine Begrenzung hinaus­läuft. So lege man ihm weder Wille noch Absicht, Denken, Sprechen, Handeln usw. bei, selbst die Nennung »Gott« darf nur negativ als: »der Endlose«, En sof, ausgedrückt werden. Er schließt sich damit, wie er selbst sagt, der Philo­sophie an, die auch Gott nur in seiner negativen Seite, was er nicht sei, dar­stellbar hält. Wie Gott unbezeichenbar ist, so ist er auch unfassbar, war seine zweite Lehre. Unter dieser negativen Be­zeichnung für »Gott« sollen wir die keine Grenze kennende, mangellose Vollkommenheit verstehen. Sollten po­sitive Eigenschaften angegeben werden, so könnten es nur sein: absolute Voll­kommenheit, absolute Einheit, absolute Unveränderlichkeit, dass absolut nichts außer ihm vorhanden sei, d. h. dass alles sich in ihm befinde, er alles in allem sei, auch in dem Endlichen und Unvollkom­menen, dass ohne ihn es keine Existenz geben könne.

b. Die Schöpfung. Um den Hervor-gang des Endlichen aus dem Unend­lichen zu erklären, wird auch hier, wie bei den Neuplatonikern, die Zuflucht zur Annahme von intelligiblen Urprin­zipien oder geistigen Substanzen als Mittelwesen genommen. Dieselben hei­ßen hier »Sephiroth«. Es ist die Emana­tion, die er sich als ein Ausstrahlen denkt, von der nun gesprochen wird. Durch einen Akt emanierte sich aus dem Unendlichen, En sof, eine Intelligenz, die alle anderen Intelligenzen, Sephi­roth, enthielt, sie selbst war im Unend­lichen, En sof, schon früher da. Diese erste Sephira wurde nicht geschaffen, sondern aus Gott emaniert. Aus dersel­ben emanierten sich in stufenmäßiger Abnahme an geistiger Vollkommenheit die anderen Sephiroth, die andren Intel­ligenzen. Diese emanierten Sephiroth in ihrer stufenmäßig verringerten Voll­kommenheit bilden die ersten Anfänge der Welt des Endlichen. Sie haben zwei Seiten, unendlich wegen ihrer Emana­tion aus dem Unendlichen, und endlich in Bezug auf den ihnen gewordenen Stand, als etwas nicht mehr in Gott, sondern für sich bestehend. So haben sie mit Gott nur Ähnlichkeit, aber keine Gleichheit mehr. Diese Doppelgestalt hat in dem En sof, dem Unendlichen, den Grund zu ihrer weiteren Erhaltung; die Sephiroth sind unendlich, wenn sich ihnen das Unendliche, En sof, mitteilt, aber endlich, wenn dasselbe ausbleibt. Diese begrenzte endliche Seite der Se­phiroth ist die körperliche Seite dersel­ben, durch sie hat sich der Unendliche, En sof, verkörpert. Die weitere Darstel­lung der Sephiroth berührt schon den dritten Punkt der Kabbala:

c. die stete Verbindung Gottes mit der Welt. Die weitere Konsequenz der Annahme von Mittelwesen bei der Schöpfung war die Lehre von der mit­telbaren Weltleitung Gottes. Die Intelli­genzen, Sephiroth, sind es auch hier, welche das weitere Schaffen und Walten Gottes in der Welt vermitteln. Die Leh­ren darüber werden an die Namen und die Einteilung der Sephiroth geknüpft und so uns vorgeführt. Der Name »Se­phiroth« heißt »Zahlen«, die Grund­zahlen aller Existenzen, ihre Urprinzi­pien, die zugezählten, zugewiesenen Urkräfte ihres Seins. Es werden deren zehn angenommen, eine Zahl, die schon bei den älteren Mystikern vorkommt, die mit bestimmten Namen belegt und nach ihrer Tätigkeit in drei Klassen ge­teilt werden: 1. die Geist- oder Verstan­deswelt; 2. die Seelenwelt und 3. die Naturwelt. Die Sephiroth der ersten Klasse heißen: 1. die Hocherhabenheit oder Krone; 2. die Weisheit, schaffende Weisheit und 3. Vernunft, der empfan­gende Geist. Die der zweiten Klasse sind: I. die Liebe oder die Gnade; z. die strenge göttliche Gerechtigkeit, die rich­tende, vernichtende Kraft und 3. die Schönheit oder die Pracht, als die ver­mittelnde zwischen beiden. Zur dritten gehören: 2. die Festigkeit oder der Sieg; 2. die Hoheit und 3. der Urgrund, als wieder die vermittelnde Kraft zwischen beiden. Es sind hier nur neun Urintelli­genzen aufgezählt, doch werden es zehn, wenn wir, wie einige wollen, das En sof, mitzählen, oder wie andere annehmen, eine zehnte unter dem Namen: »die Re­gierung«, die Vorsehung, die ersichtbare Gottheit, Schechina, hinzufügen. Eine andere Einteilung stellt die drei eben an­gegebenen mittleren Sephiroth der drei Klassen als die Krone (Kether), die Schönheit (Tiphereth), den Urgrund (Je-sod) und die Regierung (Malchuth) zu­sammen und nennt sie die mittlere Säule. Neben diesen zwei Einteilungen gibt es noch eine dritte, welche die ers­ten drei, als die drei oberen, von den andren, als die sieben unteren, scheidet. Ein weiterer Schritt dieses Systems ist die Veranschaulichung des fortwähren­den Einflusses dieser Urintelligenzen auf die Welten und die Wesen durch die An­nahme von geistigen Kanälen, Zino­roth, deren zwölf aufgezählt werden, zur Überleitung der Gottesspende auf die sichtbare Welt. Auch die Wirksam­keit der Sephiroth, je nach ihrer Klasse, findet eine Aufzählung und Bezeich­nung. So ist die der ersten Sephira das Bringen der Gotteskraft; die der Zwei­ten die Schöpfung der Engel, die Offenbarung der Thora; die der Dritten die Prophetie usw. Es werden sämtliche in der Bibel als Taten Gottes bezeichneten Werke in der Schöpfung, Weltregierung und Welterhaltung, auf die Sephiroth übertragen; sie bilden die Merkaba, den Thronwagen Gottes, das Bild in Eze­chiel 1. von dem Sichtbarwerden der göttlichen Weltregierung, so dass der talmudische Ausspruch: »Die Väter, das ist die Merkaba«, ebenfalls nur in Be­zug auf die Sephiroth erklärt wird, als deren Personifikation die Stammväter Abraham, Isaak und Jakob, Joseph, Moses und Aaharon die Gründer des Gottesreiches, gehalten werden. Dem­nach ist nicht Gott, sondern sind die Se­phiroth die Schöpfer der Welt. Eine wei­tere Folge dieser Lehre war, dass sämtliche Wesen, einzeln und in ihrer Gattung in der oberen Welt, in den Se­phiroth, den intelligiblen Prinzipien, ihre Wurzeln, Urtypus, haben. Drei Bil­der werden zur Verdeutlichung dessel­ben angegeben. Die Welt ist wie ein blattreicher Baum, dessen Wurzeln die Oberwelt, die Geisterwelt, die Sephiroth sind; ferner: sie gleicht einer Kette, de­ren letzter Ring oben ist, oder einem Meere, das sich aus einer ewig sich er­gießenden Quelle stets neu füllt. Mit diesen intelligiblen Urprinzipien, den Sephiroth, steht der Mensch, vermöge seiner Seele, in wechselseitiger Wirkung; durch sie kann er auf die Sephiroth, ja auf Gott einwirken. Durch Werke der Frömmigkeit vermag der Mensch, d. h. seine Seele, die Segensspenden von Gott mittelst der Sephiroth und der Zino­roth, der Kanäle, fördern; ebenso durch die Sünde sie aufhalten und hindern. Is­rael ist durch die Gesetzeserfüllung hierzu besonders befähigt. Das Gebet und die Gesetzesausübung sind die ma­gischen Mittel zur Erhaltung der Welt, d. h. zur Überleitung der göttlichen Se­gensspende auf die Welt. Der Tempel in Jerusalem mit seinem Opferkultus war hierzu sehr bedeutsam. Der Tempel un­ten wirkte auf den Tempel oben, auf die Sephiroth. Nach der Zerstörung des Tempels trat der Synagogenkultus an dessen Stelle. Mittelst des Gebetes, wenn es mit Andacht verrichtet wird, kann der Mensch die Sephiroth zur Se­gensspende veranlassen. Doch muss er durch Intuition es verstehen, die be­stimmte Sephira zu treffen, wozu die Kenntnis des Gebetgeheimnisses beson­ders notwendig ist. Es wurden deshalb zu den Gebeten, wie zum Gesetz eigens kabbalistische Kommentare verfasst. Die nächste Folge war ein trauriger Ab­fall von der einen Lehre des Judentums. Es entwickelte sich an der Stelle des Gotteskultus ein Sephirothkultus; man betete nicht mehr zu Gott, sondern zu den Sephiroth. Die Andeutung von Mit­telwesen wurde nunmehr im Judentum heimisch. Eine zweite gegen das alte Ju­dentum geltende Lehre ist die von der Seele und der Seelenwanderung. Die Seelen, die als vorher existierend, vom Uranfang in bestimmter Zeit angenom­men werden, sollen, so wird gelehrt, im Erdenleben durch Verbindung mit dem Leibe eine Prüfung bestehen, ob sie sich in demselben rein zu erhalten vermö­gen. Hat eine Seele sich rein erhalten, so steigt sie sofort zum Himmel empor, aber im Falle einer Sündenbefleckung muss sie mehrere Mal in Körper versetzt werden, bis sie genug geläutert, sich zu den Sephiroth, der Stätte ihrer Her­kunft, erheben kann. So soll die Seele von Seth erst in Moses ihre vollstän­dige Läuterung erhalten haben. Eine, natürlich sehr schwache, Andeutung der Selenwanderung im Gesetze findet er in der Anordnung der Schwagerehe, da der in derselben gezeugte Sohn die Seele des verstorbenen Bruders erhal­ten soll. Die meisten Geburten erhalten eine alte Seele, selten eine neue, dies in Folge der Sündhaftigkeit des Menschen­geschlechts. Diese Sündhaftigkeit der Menschen, in deren Folge nur wenig neue Seelen in die Welt gesetzt werden können, wird als Grund der Verzöge­rung des Erscheinens des Messiasreichs und des Eintritts der neuen zukünftigen Welt angegeben, da die Zeit für beide erst ist, wenn sämtliche Seelen aus ihrer Vorratsstätte in die Welt getreten sein werden. Die Ehe wird als mysteriös-wichtiger Akt betrachtet, die das Ein­gehen der Seele in die Körperwelt be­fördert. Wir erkennen in diesem System das Streben, die alten Traditio­nen durch Versetzung mit neuplatoni­schen Philosophemen den Denkern zugänglich, annehmbar zu machen. Sie sollte so im Gegensatz zur Philosophie eine Art jüdische Theosophie sein; bei den Kabbalisten galt sie für die Sara, die echte Mutter des Judentums, dagegen nannte sie die Philosophie »die Hagar«, die aus dem Hause Abrahams, dem Ju­dentum, gewiesen werden müsse. Doch zeigten sich hier schon, wie wir bereits oben bemerkten, was die Kabbala aus dem reinen Judentum gemacht hat. Sie führte statt des Gotteskultus den Sephi­rakultus ein, anstatt der Gotteseinheit eine Zehntheit Gottes. Gegen diese Ab­fallslehre erhoben sich im 13. Jahrhun­dert, wo die Kabbala noch nicht so sehr um sich gegriffen hatte und von den großen Denkern teils verspottet, teils unbeachtet geblieben, noch wenig Stim­men, aber schon im 14. und 15. Jahr­hundert erfolgte ein Protest auf den an­deren gegen die Verbreitung ihrer Lehren. Esra und Esriel, diese eigentlich ersten Kabbalisten, die schriftlich ein System der Kabbala veröffentlichten, erkannten noch die Bedeutsamkeit des philosophischen Geists ihrer Zeit an und bemühten sich, die kabbalistischen Lehren vernunftgemäß in die Welt zu setzen, aber schon anders verfuhr ihr Nachfolger: Jacob ben Schescheth, ebenfalls aus Gerona (1243 — 1246). Dieser Kabbalist buhlte nicht mehr um die Gunst und den Beifall der Philoso­phen, wollte gar nicht bei ihnen Propa­ganda für die Kabbala machen, sondern betrat einen anderen Weg, er stellte die Kabbala als ein anderes der Philosophie gegenüber. Er wirft den jüdischen Philo­sophen den Fehdehandschuh zu; nennt sie »Ketzer«, »Gesetzesverächter«, ihre Lehre »Ketzerlehre« und schickt sich an, die Kabbala als die allein selig ma­chende Lehre des Judentums aufzustel­len, der die Philosophie weichen müsse. Er verfasste über die Kabbala eine Schrift in Reimversen, das Buch »Sc­haar Haschamajim«, Himmelspforte, in welcher er die Sephiroth »Havajoth«, Urexistenzen, nennt, von denen jeder einzelnen noch eine sie näher bestim­mende Bezeichnung hinzugefügt wird. So heißt die erste Urexistenz, die erste Sephira, »Wille«, razon; die zweite »Weisheit«, chochmah; die dritte »Ein­sicht«, binah, oder »Vernunft« usw. In diese Zeit fällt die Unterschiebung des Buches Bahir, die erste apokryphische Schrift der Kabbala, die auch den Na­men: »Midrasch schel R. Nechunja ben hakna« führt. Die Neuheit der Schrift verrät sich dadurch, dass sie die Akzent-und Vokalzeichen kennt. Es war der erste Versuch, die Kabbala in Midrasch­form vorzutragen, das Buch Bahir ist der Vorläufer des Sohar. In demselben kommt die schon scheinbar beseitigte anthropomorphistische Mystik wieder zur Geltung; die Sephiroth werden zwar mit den biblischen Gotteseigenschaften, middoth, aber auch mit »Fingern und Gliedern Gottes« in Verbindung ge­bracht. Die Kabbala hat in diesen Leh­ren einen tüchtigen Schritt rückwärts getan. Der durch die spekulative Ge­heimlehre verdrängte Anthropomor­phismus steht wieder plötzlich vor uns, das Spekulative hängt nur noch an schwachen Fäden. Mit Recht wirft der gelehrte Zeitgenosse Samuel Saporta den französischen Rabbinern, die sich gegen Maimonides erklärt haben, vor: »Ihr denkt euch die Gottheit, wie die Heiden, in menschlicher Gestalt. « Alle Arbeiten der Vorgänger, den anthropo­morphistischen Mystizismus aus dem Judentum zu bannen und an dessen Stelle das spekulative Element zu setzen, wären vergeblich geblieben, hätte sich nicht jetzt ein Mann für die Kabbala er­klärt, ein Mann an die Spitze der Kab­balisten gestellt, der sie mit geschickter Hand auf ihren früher schon eingeschla­genen Weg der Spekulation wieder zu­rückführte. Der Mann war Moses ben Nachman aus Gerona, Gerundi (1195 — 1270), der unter dem abgekürzten Namen »Ramban« der Nachwelt un­vergesslich wurde. Als Jünger der Kab­bala, in die er von den oben genannten Esra und Esriel, oder von seinem Lehrer Jehuda ben Jakar eingeführt wurde, trat er in seinem größeren Sendschreiben an die französischen Rabbiner gegen die Verirrungen der anthropomorphisti­schen Mystik auf, sprach sich gegen das Festklammern derselben an den buch­stäblichen Sinn der agadischen Aus­sprüche aus, wie sie sich von Gott menschliche Vorstellungen machten, Gott eine Gestalt, Gliedmaßen und menschliche Organe beilegten, ein Ver­fahren, das ja schon die Gaonen und der später lebende Elasar aus Worms als ketzerisch bezeichneten. Er nimmt da­her den verlorenen Faden der spekulati­ven Kabbala des Esra und Esriel wieder auf und knüpft an ihn ihre Weiterent­wicklung an. Doch hütet er sich, ein fer­tiges System der Kabbala in eine Schrift niederzulegen; sie soll als Geheimlehre nicht allen zugänglich gemacht werden, sondern nur in aphoristischen Sätzen und mehr in einer Andeutungsform ge­lehrt sein; mehr anregen, als belehrend. In mehreren Schriften spricht er von ih­ren Hauptlehren in kurzen abgerissenen Sätzen: »Aus dem Unendlichen, dem Urgeiste, ging der Urstoff in zweifacher Gestalt hervor: ein geistiger, himmli­scher und ein irdischer, sinnlicher (Hyle), auf die sich die Ausdrücke in 1. M. 1. 2. >Tohu und >Bohu< beziehen.« Die Sephiroth als die Urintelligenzen sind auch bei ihm, aus denen die Schöp­fung hervorging; auf sie deutet das erste Wort der Schöpfungsgeschichte »Bere-schith « nach seiner traditionellen Deu­tung als »Weisheit,« chochmah, die Se­phira der Wertschöpfung; auch die sechs Schöpfungstage sind bildliche Bezeich­nungen für die sechs Hauptsephiroth. Die Evolution war auch ihm folgend. Erst ließ Gott einen kleinen Punkt, den Urpunkt, entstehen, aus dem die Ur­stoffe hervorgingen. Unklar ist hier, ob dieser Urpunkt aus Gott ausging, also emaniert wurde, oder ob er geschaffen wurde; wir wissen also nicht, ob Nach­manides eine direkte Emanation aus der Gottheit in seiner Kabbala annahm. Andererseits betrachtet er die Seele als Teil der Gottheit selbst, die von der Se­phira Bina abstammt, ja er identifiziert die Seele mit dem Leben Gottes. Spätere Kabbalisten, Rekanati u. a. m., nennen Nachmanides als den, welcher die Se­phiroth als wirklich aus Gott emanierte Wesen betrachtet, sie mit Gott gleich hält (Rekanati bei Luzzato vikuach ha-kabbala S. 37). Auf einer andren Stelle spricht er sich entschieden gegen jede Annahme der Sephiroth als Mittelwesen aus, gegen die Verirrung, an dieselben unsere Gebete zu richten oder sie zu un­serer Fürbitte anzurufen. Im Ganzen unterscheidet er, wie die Kabbalisten später, den Ausdruck »bara« und » vaji­bra« von »assah« und »vajaas«, indem er erstere auf die ersten drei Sephiroth, auf den Urpunkt und die anderen zwei Hauptsephiroth, den Urstoff für den Himmel und die Erde als die Urschöp­fungen aus dem Urnichts bezieht, aber letztere auf den Hervorgang der Schöp­fungswerke, als aus einem vorhandenen Stoffe deutet. Weiter werden die sechs Schöpfungstage als Bild der sechs Jahr­tausende, der Dauer der Schöpfung bis zum Eintritt der zukünftigen Welt, olam haba, erklärt. Gegen Maimonides er­klärt er sich entschieden für den Glau­ben an die wirkliche Existenz von bö­sen Geistern, an die Macht der Zauberei und der sonstigen magischen Mittel u. a.m.; ebenso an die wirkliche Existenz des Paradieses, Eden, für die lauteren Seelen und der Hölle mit einem feinen, den ätherischen Stoff der Seele verzeh­renden Feuer als Straftäter für die Sün­der. Doch hält er sie für unvernichtbar. Ihre Emanation aus Gott findet er in den Worten: »und er blies in ihn den Lebensodem«, nischmath chajim. Sämt­liche Seelen sind vom Uranfange schon da, im Himmel auf einer bestimmten Stätte, wohin sie nach dem Tode zu­rückkehren. Weiter lehrte er, dass die Kabbala Anweisungen zur Wundertä­tigkeit von alten Traditionen habe. Zum Nachweis oder zum Auffinden gewisser Anknüpfungspunkte oder An­deutungen für diese Lehren in der Schrift braucht auch er die bei den Mystikern üblichen exegetischen Mit­tel, allegorische Deutung usw. Großen Wert legte er auf eine Schrift Sefer Ha­tagg, in welche die im Pentateuch vor­handenen Buchstaben mit Krönchen aufzählt und sie als diejenigen bezeich­net, die große Geheimnisse andeuten. Überhaupt lehrte er, dass nach einer Tradition der ganze Pentateuch aus Gottesnamen bestehe, man brauche nur die einzelnen Wörter in Namen umzu­wandeln, wozu auch die Buchstaben und Zahlenkombinationen gehören (Nachmanides Vorrede zum Penta­teuch). Dieses Auftreten des Nachmani­des als Kabbalist war von geschicht­licher Bedeutsamkeit für den ferneren Bestand und die weitere Entwicklung dieser Geheimlehre. Ihr Rückfall in den groben Anthropomorphismus war durch ihn fast zur Unmöglichkeit ge­worden und ihrem Einfluss sowie der weiteren Verbreitung ihrer Lehrer hatte die Persönlichkeit eines Nachmanides einen guten Vorschub geleistet. Die Gegner der Kabbala im vierzehnten Jahrhundert, wie Isaak Pulgar (1300 —1340), der sich in seiner Schrift »Eser hadath « gegen das angebliche hoh Alter der Gemeinlehre ausspricht, u. a. m. schwanden gegenüber einem Nachma­nides, der für dasselbe eintritt, immer mehr. Salomo Adereth aus Barcelona (1235 — 1310) äußerte sich in seinen Responsen mit voller Achtung über die Kabbala, kann in dem Gebrauch ihrer Amuletten u. a. m. nichts Anstößiges finden, behauptet, dass auch Maimo­nides sie nur als Torheit, aber nicht als Sünde verpönt habe, und möchte die Mitteilung ihrer Lehren mit vieler Vor­sicht nicht an jedermann wissen. Ein weiteres geschah von dessen Jüngern, welche durch Vertiefung in ihre Lehren die Kabbala zu einem vorläufigen Ab­schluss brachten. Der Schauplatz ihrer Lehrtätigkeit ist nicht mehr Gerona, nicht mehr Nordspanien, sondern Süd­spanien bis nach Toledo hin. Der erste dieser Jünger des Adereth, der ein eif­riger Kabbalist war, hieß: Todros ben Joseph Halevi Abulasia (1234 -1304). Er war für die Kabbala, da er zugleich bedeutende Talmudkenntnisse besaß, von Bedeutung, und bildete gewisser­maßen den Mittelpunkt seiner zeitge­nössischen Kabbalisten. Sein Lehrer in der Geheimlehre war Jakob aus Sego­via. Todros legte in mehreren Schriften seine kabbalistischen Lehren nieder, Ab­handlungen über die Sephiroth und de­ren Einfluss sowie über die Seelenwan­derung. Für beides suchte er agadische Aussprüche aus dem Talmud herbeizu­bringen. Auch seine zwei Söhne Joseph und Levi waren ausgezeichnete Kab­balakenner, denen man Werke gewid­met hatte. Der zweite dieser Jünger von Adereth war: Isaak ben Abraham Ibn Latif oder Allatif (1270), aus Südspa­nien, gekannt als Verfasser mehrerer Schriften. In seiner Darstellung des kab­balistischen Systems gebrauchte er phi­losophische Formeln, wo er die ge­wöhnliche kabbalistische Sprache mied. Ihm genügten nicht die philosophischen Betrachtungen; man müsse, erklärte er, zu einer höheren Auffassung seinen Weg nehmen. Seine Zeitgenossen sprachen daher von ihm, er stecke mit einem Fuß in der Philosophie und mit dem anderen in der Kabbala. Bekannt ist sein panthe­istisch klingender Satz: »Die Gottheit ist in allem und das All ist in ihr. « Das Gebet betrachtete er als das Mittel, mit­tels dessen der menschliche Geist zum Allgeist sich erhebt und mit ihm sich vereinigt, um den Segen für die niedrige Welt herabzuziehen, wozu nur die Voll­kommenen und Propheten befähigt ge­halten werden. Gottes Offenbarung und seine Selbstentfaltung in der Welt veran­schaulichte er durch die mathematische Figur. Das Verhälmis des Punktes zur Linie, der Linie zur Fläche, der Fläche zum ausgedehnten Körper ist das Bild für das Verhältnis der Gottesoffenba­rung in der Sphärenwelt. Der Dritte, der hierher gehört, war Abraham Samuel Abulasia (1240 — 1291) aus Saragossa. In vollem Gegensatz zu seinem Vorgän­ger wendet er sich von der philosophi­schen Spekulation ab, die er aus der Kabbala völlig erwiesen haben möchte. Sein kabbalistisches System sucht er vorwiegend auf dem Boden des gaonäi­schen Mystizismus aufzubauen. Die Mystik, die bei den Kabbalisten Esra und Esriel (siehe oben) in den Hinter­grund trat und von der philosophischen Spekulation fast verdrängt wurde, zog er aus ihrem Versteck wieder hervor und betrachtete sie als den einzigen wahren Boden der Kabbala. Als Ge­währsmänner dafür stellte er Nachma­nides und Elasar aus Worms auf; beide haben allerdings auch die Lehren der Mystik in ihre Kabbala aufgenommen, aber er vergisst, dass sie nur im Dienste der Spekulation und als bei ihr neben­her geduldet wurden. In einer ziemli­chen Anzahl von Schriften bekämpft er die bisherige Darstellung der Kabbala und stellt eine andere auf. Er tadelt die Dunkelheit und das Zweideutige seiner Vorgänger in der Auffassung der Sephi­roth und in der Angabe ihres Wesens, ob sie geschaffene Wesen oder Urexis­tenzen, Kräfte oder wirkliche Wesen seien. Ihm genügte diese Kabbala nicht mehr und er verwarf sie zusammen mit der Philosophie und nennt beide Diene­rinnen. Gegenüber dieser niedrigen Kabbala nannte er eine höhere, die ihm mittels direkter göttlicher Eingebung geworden. Nur durch sie vermag der Mensch in eine engere Verbindung mit Gott zu treten und die Prophetie zu er­halten. Es ist die Buchstaben- und Zah­lenmystik, die Umsetzung der Buchsta­ben der einzelnen Wörter zu neuen Wörtern durch die exegetischen Mittel des Notarikon und des Ziruf (siehe Ex­egese) sowie die Betrachtung der einzel­nen Buchstaben als Zahlen und die Be­rechnung ihres Wertes; sie offenbaren ihm die Geheimlehren und bilden den Weg, um mit der Geisterwelt in Wech­selverkehr zu treten. Andere Mittel sind die Askese, das Aufsuchen von Einöden und einsamen Ortschaften, die Losbin­dung von niedrigen Sorgen, die Samm­lung der Seele in Andacht als zu einer Unterredung mit der Gottheit. Den Got­tesnamen Jhvh habe man nach seinen Buchstaben in längeren und kürzeren Pausen und unter gewissen Ovulationen der Stimme auszusprechen. Auch das Niederschreiben des Gottesnamens in einer gewissen Reihenfolge unter vielen Bewegungen, Wendungen und Verbeu­gungen wird empfohlen. Der Mensch wird alsdann von einem Schlafe über­fallen und in den Zustand der Ekstase versetzt, gleichsam, als wenn die Seele sich vom Leibe loslöste. In diesem Zu­stand geschieht die Ergießung der gött­lichen Fülle in die menschliche Seele, sie vereinige sich mit ihr in einem Kusse, worauf die Offenbarung erfolgt. Mit diesem System wendet er sich zur Bekämpfung zweier Richtungen: 1. der Gesetzestreuen, deren alleinige Geset­zesvollziehung er als ein Werk der Un­reife und für die Unreifen, etwa wie Milch für Kinder hält. Reifere finden nur in der Kabbala ihre Genüge, in der Zahlenbedeutung der Buchstaben, in der Zusammensetzung und Neubildung von Wörtern zur Vernehmung von höherer Weisheit. Nach den Geset­zestreuen überhäuft er die Sephirakab­balisten mit Vorwürfen ihrer Unklarheit und Vernichtung des Einheitsglaubens, des Monotheismus, im Judentume. «Die Christen«, sagte er, »glauben an eine Dreieinigkeit, aber diese Sephirakabba­listen an eine Zehneinigkeit Gottes. « Es war ein gewaltiger Rückschritt, den die Kabbala in den Lehren Abulasisas machte, ein ungeahnter Rückfall in den schon überwundenen Mystizismus der Gaonenzeit. Das Einzige, was wir in diesem von ihm gemachten Rückschritt als eine Art Fortschritt begrüßen möch­ten, ist, dass in dem Mystizismus des Abraham Abulasia nichts mehr von der Maßbestimmung Gottes (Schiur Koma) und von anderen groben Vermenschli­chungen Gottes vorkommt. Der Einfluss des Nachmanides war aber doch derar­tig, dass ein solcher Anthropomorphis­mus nicht mehr auf eine lange Dauer rechnen konnte; sie hatte im Judentum keine Stätte mehr. Das Unheilvolle der kabbalistischen Lehren des Abraham Abulasia blieb jedoch nicht aus; es griff das eigene Leben seines Urhebers an. Abraham Abulasia glaubte sich durch die Buchstaben- und Zahlenmystik, die Kunst der verschiedenartigen Weisen der Buchstabenzusammensetzung (Zi­ruf Haothioth) und der Berechnung des Zahlenwertes der Buchstaben, Gimatri­oth, die ihm Geheimlehren offenbarten, in dem Besitz des wahren Schlüssels zur Gotteserkenntnis und der Geheimlehren, die ihn in Verbindung mit der spen­denden Segensfülle Gottes und der höchsten Vernunft bringen. So ver­meinte er den Grad der Prophetie er­reicht zu haben; er gab sich erst als Pro­phet und zuletzt als Messias aus. Er machte sich auf die Reise zur Erfüllung seiner messianischen Sendung. Im Jahre 1279 trat er in Urbino auf mit einer apokalyptischen Schrift, in der er sich »Rasiel«, Gottesgeheimnis, nennt und die ihm gewordenen Gottesgeheimnisse unter der Formel: »So sprach der Herr zu Rasiel! « veröffentlichte. Im Jahre 1281 wagte er die Bekehrung des Paps­tes Martin IV. zum Judentum, eine Kühnheit, die ihn bald das Leben gekos­tet hätte. Im November 1284 erklärte er sich in Messina als den von den Juden erwarteten Messias. Gott habe ihm das Ende des Exils und das Ende der Erlö­sung verkündet. Aber bei diesem blieb es nicht allein. Die verderbliche Kabbala des Abraham Abulasia brachte auch an anderen Orten große Verirrungen her­vor. Auch in Spanien gaben sich zu glei­cher Zeit zwei Kabbalisten als Messi­asse aus: ein Prophet Samuel in Aylon im Segovianischen und ein anderer in Avila; ersterer war sein Schüler Samuel aus Medina Cel und letzterer soll Joseph Gikatilla gewesen sein, beide trieben bald das Handwerk ihres Meisters. Ge­gen dieses verderbliche Treiben und die Auswüchse der Kabbala trat noch zur Zeit der schon oben genannte Salomo Sohn Adereth mit dem ganzen Gewicht seiner Autorität auf. Dieser Mann erwarb sich das große Verdienst, nicht bloß die Betrüger entlarvt, sondern auch das Judentum vor den schweren Folgen solcher Ausschreitungen bewahrt zu ha­ben. Dieses energische Eingreifen Ben Adereths blieb nicht ohne Folgen auch für die Kabbala. Die Kabbalisten wur­den nüchterner, sie merkten, dass sie sich zu weit von der Richtung Abraham Abulasias hinreißen ließen, und eine Modifikation dieser mystischen Lehren war das natürliche, freudige Ergebnis. Man griff wieder nach der spekulativen Geheimlehre, den Sephirothlehren, die man in eine Verbindung mit dem Mysti­zismus des Abraham Abulasia zu brin­gen suchte. Abulasia selbst kehrte in ei­nem Sendschreiben an seinen Schüler Jehuda Salomon zu der Lehre von den Sephiroth, wenn auch in modifizierter Form, zurück. Alle zehn Sephiroth gip­feln, nach seiner jetzigen Lehre, in die eine, die erste Sephira, die Krone, die Urluft, die Wurzel aller Sephiroth. Er spricht weiter von einer Trias (Dreiheit) der Sephiroth, welche, wie die Buchsta­ben א ,ב ,ג und die drei im Menschen vorhandenen Prinzipien: das Vitale (im Herzen); das Vegetative (in der Leber) und das Vernünftige (in dem Hirn des Menschen), zu einer Einheit gehören. So war endlich der alte Kompromiss zwischen der spekulativen und der mys­tischen Geheimlehre wiederhergestellt, ein Bund, der nicht wieder zerstört wurde. Die Männer, die diese Wieder­verbindung vollbrachten, waren Joseph Gikatilla und Mose de Leon. Joseph Gikatilla, ein Jünger Abraham Abula-sias, geboren in Medina Celi 1z48, ge­storben 1305 in Penjasiel. Unter den vielen Schriften, die er verfasste, ist die unter dem Namen »Ginath Egos«, der Nussgarten, die vorzüglichste. In dersel­ben werden die verschiedenen biblischen Gottesnamen mit den Sephiroth, den geistigen Ursubstanzen in Verbindung gebracht. Neben diesem spricht er von der Zahlenmystik, der Zersetzung und der neuen Verbindung der Buchstaben der Wörter zu neuen Wörtern und neuen Sätzen, den bekannten Kunstmit­teln der Mystik zum Auffinden neuer Geheimnisse. Bedeutend erweitert wur­de diese wiederbegründete Kabbala durch den Zweiten: Mose de Leon. Mose Schemtob de Leon, geb. in Leon 1250, gest. in Arevalo 1305. Er wohnte abwechselnd in den Städten Guadala-xara, Viverro, Balladolid und Avial und verfasste eine Menge von Schriften, von denen kabbalistischen Inhalts sind:

1. das Buch: Hanephesch Hacho­chma oder Hamischkal; 2. das Buch: Schekel Hakodesch und 3. das Buch Se-fer hasodoth oder: mischkan haeduth. In diesem Leben verwirft er jene Bemü­hung, die jüdischen Religionslehren mit der Philosophie in Einklang zu bringen. Dagegen bleibt er der allegorischen Er­klärungsweise der Bibel zugetan. Er be­hauptet, die Thora habe einen tieferen Inhalt, sie enthalte den Gedanken Got­tes, und an jeder Erzählung, jeder Vor­schrift, ja an jedem Worte hänge der Bestand der Welt. Weiter lehrte er: die Seele stelle ein Abbild des himmlischen Urbildes dar; sie stamme aus einem hei­ligen Urquell und habe das Vermögen, den Segen vom Himmel auf die Erde zu bringen. Weiter schildert er ganz im Sinne seiner Vorgänger den Zustand der Seele nach dem Tode, die Seelenwande­rung. Neu ist darin die Beschreibung des Paradieses. Alles das waren nur die Vorboten seines viel umfassenderen Hauptwerkes »Sohar«, Glanz, das eine Zusammenfassung, Zusammenstellung und Verarbeitung aller bisherigen Leis­tungen auf dem Gebiete der Geheim­lehre enthält und eine Art Enzyklopädie der Geheimlehre, wie sie sich durch die Vereinigung des Spekulativen mit dem Mystischen unter dem Namen »Kab­bala« herausgebildet hat, darstellt. Die­ses Buch: »Sohar« nennt den Talmud­lehrer, Tana, R. Simon ben Jochai, einen Mann der talmudischen Mystik, zu sei­nem Verfasser, ein Verfahren, das aller­dings in der Mystik nicht neu und ver­einzelt dasteht, da fast die ganze mystische Literatur der Gaonenzeit, die unter dem Namen »Kleine Midra-schim« bekannt geworden, eine Menge solcher fingierter Namen als Träger und Verkünder ihrer Lehren hat. In dem So-har erstieg die Kabbala ihren Gipfel­punkt, sie feierte in ihm ihre Blütezeit und gewissermaßen auch ihre Vollen­dung; sie schließt mit ihm ihre zweite Epoche, den Hauptabschnitt ihrer Lehre. Dieses merkwürdige Buch wurde der Talmud der Kabbalisten und war für die weitere Fortbildung der Kabbala der späteren Zeit bis heute maßgebend und bestimmend. Der ganze weitere Ausbau der Geheimlehre hatte den So-har zu seiner Grundlage und bildete gleichsam den Kommentar zu ihm; er sollte auch für nichts anderes gelten. In­dem wir das Ausführliche über die Ent­stehung, Abfassung und Inhalt des So-har in dem Artikel »Sohar« behandeln, bemerken wir nur, dass wir in ihm einen älteren Bestandteil von dem jüngeren, dem in späterer Zeit hinzugekomme­nen, zu unterscheiden haben. Der ältere Bestandteil nennt folgende Schriften, aus deren Bruchstücken er zusammen­gesetzt ist: 1. das geheime Buch; 2. die große Versammlung; 3. die kleine Ver­sammlung; 4. das Buch des Glanzes; 5. die geheimsten Geheimnisse; 6. das Buch der Hallen; 7. Mischna und Tose­phta; 8. der treue Hirt; 9. der geheim gehaltene Midrasch; 10. der Vortrag des Alten; 11. der Vortrag des Jünglings. Die später hinzu gekommenen Schriften sind: 1. der neue Sohar; 2. die alten und neuen Tikunim, und 3. die Supplemente. Im Ganzen bildet der Sohar einen theo­sophischen Kommentar zum Penta­teuch, der die spekulative Geheimlehre mit dem Mystizismus, wie derselbe in der gaonäischen Zeit gepflegt wurde und die Geheimlehre des Abraham Abulasia ganz beherrscht hatte, mitein­ander zu verschmelzen sucht und so sich zum Grundbuch der Kabbala macht. Indem wir über den Lehrinhalt dessel­ben auf den Teil II dieses Artikels, wo derselbe seine ausführliche Behandlung findet, verweisen, bleibt uns hier nur noch einiges über sein Erscheinen und seine Wirkung zu geben übrig. Der Ein­druck, den dieses Buch hervorbrachte, war ein überraschender und gewaltiger. Die Kabbala hat in ihm ihren Gipfel­punkt erreicht, niemand wagte etwas gegen seine Lehren vorzubringen, indes­sen machte dieses Buch, sowie die Kab­bala überhaupt, solche Verheerungen in dem Judentum des Mosaismus und des Talmuds, dass wir nicht umhin können, am Schlusse dieser Epoche die gegen die Kabbala sich wieder von allen Seiten er­hebenden Stimmen zu verzeichnen. Die Trübung der reinen biblischen Gottesi­dee durch die Emanationslehre, der völ­lige Abfall von dem Glauben an die Gotteseinheit durch die Annahme der Sephiroth als wirklicher Teil der Gott­heit bei den meisten der bisherigen Kab­balisten und ihre Anordnung, die Ge­bete an die Sephiroth zu richten, sowie der Glaube an deren Macht und Wirk­samkeit, ferner die durch die allegori­sche Gesetzeserklärung unvermeidliche Untergrabung des Gesetzesbodens, auch die Erhebung des Studiums der Geheim­lehre über die des Gesetzes, die Verbrei­tung eines wüsten Aberglaubens u. a. m. waren die Vorwürfe, die von den Geg­nern der Kabbala erhoben wurden und sie zu einem energischen Gegenhandeln vereinigten. Schon die Kabbalisten des dreizehnten und vierzehnten Jahrhun­derts fühlten die Schwächen ihrer Leh­ren. So klagt der erste kabbalistische Schriftsteller Esriel in der Vorrede zu seinem Buche »Esrath Adonai«, dass die Philosophen, die nur der Nötigung der Verstandesurteile nachgeben, der Kabbala kein Gehör schenken. Abra­ham Abulasia, den wir schon genannt haben, wirft seinen Vorgängern in der Kabbala Zweideutigkeit in der Vorstel­lung und der Lehre von den Sephiroth vor; man wisse nicht, wofür man sie zu halten habe, ob es Kräfte oder selbst­ständige Wesen, oder nur Substanzen, Stoffe, oder gar Eigenschaften seien. Sie schwanken und haben keinen Mut sie als geschaffene Urintelligenzen oder als wirkliche Gottesurteile zu halten. Am Schlusse des dreizehnten Jahrhunderts gesteht der Verfasser des kabbalisti­schen Buches Maarchoth Elohuth: »Das En sof (Bezeichnung Gottes, aus dem die Emanation hervorging, Inbegriff des ganzen Emanationswesens) hat für sich keine Andeutung weder in der Thora, in den Propheten, noch in den Kethubim oder in den rabbinischen Schriften; nur einige Winke dazu sind traditionell den Kabbalisten geworden.« Im vierzehnten Jahrhundert ist es Joseph Ibn Bakar, der offen ausspricht, dass eine Verschieden­heit in der Auffassung und Darstellung der Lehre von den Sephiroth stattgefun­den und geteilte Meinungen sich kund­gegeben haben. Diese Geständnisse der Kabbalisten machten die Nichtkabba­listen mutiger gegen die Kabbala ener­gisch vorzugehen. Wir nennen von den­selben: 1. Salomo ben Idereth (1270 — 1310), der das kabbalistische Dogma von der Seelenwanderung bekämpft (Responsen N. 119); 2. Isaa Pulgar im dreizehnten Jahrhundert, der in seiner Schrift Eser hadath die Anmaßung der Kabbalisten, die Kabbala der Bibel und der Mischna gleichzustellen, zurück­weist. 3. Perez Kohen im vierzehnten Jahrhundert, von dem erzählt wird, dass er nie von den Sephiroth etwas ge­sprochen, noch nachgesonnen habe. 4. Simson ben Isaak aus Chinon (1300 —1350) ist voll Bitterkeit darüber, dass die Kabbalisten nicht an Gott, sondern zu den Sephiroth ihre Gebete reichten. »Ich verrichte mein Gebet«, äußerte er sich gegen solche Verirrungen, »wie ein Kind.« 5. R. Nissim ben Reuben (1340 — 1380), der es seinem Lehrer Nachma­nides nicht verzeihen kann, dass er sich in die Kabbala vertieft und an ihre Leh­ren geglaubt hat. 6. Elasar Lippmann aus Mühlhausen; er bezeichnet die Leh­ren der Kabbalisten als diejenigen, wel­che vom Judentum abweichen und sich dem Christentum nähern. 7. Isaak ben Scheschet und Salomo ben Druan (1400 — 1467) werfen den Kabbalisten Zwei­deutigkeit und Dunkelheit in ihren Leh­ren von den Sephiroth vor, ob man die­selben als Teile Gottes, oder nur für Eigenschaften usw. zu halten habe; im ersten Falle stehen sie noch unter den Christen, da diese an eine Dreiheit Got­tes, aber jene an eine Zehnteiligkeit Gottes glauben. Die dritte Periode läuft etwas ruhiger ab. Nach der Zeit des Sturmes und Kampfes kamen die Tage der Ruhe und der Einkehr. Die Kabbala hat am Schlusse der zweiten Periode den Gipfel ihrer Lehren erstiegen; sie sucht sich jetzt zu sammeln und für al­les, was sie im Sturm zusammenge­bracht, eine festere Begründung zu schaffen. Von den Männern dieser Peri­ode nennen wir: 1. Schemtod ben Abra­ham Ibn Gaon aus Segovia, geb. 1283 und gest. 1330, Schüler des Salomo ben Adereth und des Isaak ben Todros, ei­ner der eifrigsten Kabbalisten. Er wan­derte nach Palästina aus und verfasste mehrere kabbalistische Schriften. Die kabbalistischen Lehren trug er ohne Angabe ihres Ursprunges vor. 2. Isaak ben Joseph Chelo oder Cholo (1328 —1333 ) aus Laresa sowie sein Zeitge­nosse, ein Enkel Ascheris, Mair ben Isaak Ibn Aldabi; beide nach Palästina Eingewanderte vertieften sich in die Kabbala, ohne sich in ihr besonders hervorzutun. Letzter ist durch sein Werk »Schebile Emuna« der Nachwelt länger im Gedächtnis geblieben. 3. Joseph Ibn Wakar (1335) aus Toledo, ein entschie­dener philosophisch gebildeter Kabba­list, der in seinen kabbalistischen Schrif­ten die Kabbala zu rechtfertigen suchte, aber auch andererseits ihre Schwächen nicht verschwieg. Vom Buche Sohar sagt er, dass viele Irrtümer darin vor­kommen, vor denen man sich zu hüten habe, sonst bezeichnet er als gute Quel­len für die Kabbala: Midrasch Rabba, Sifra, Sifri, Pirke de R. Elieser, die Leh­ren des Nachmanides und des Todros Halevi. Er neigt sich in der Aufzählung der Sephiroth der Lehre zu, dass die erste Sephira außerhalb Gottes die erste Ursache sei. Für die Sephiroth versteht er Anknüpfungen in Bibel und Talmud aufzufinden; er hat darüber mehrere Abschnitte in seiner Schrift über die Se­phiroth. 4. Abraham aus Granada (1391— 1400), Verfasser der Schrift »Berith Menucha«, wo die Geheimlehre im Gewande der alten Mystik überwie­gend gelehrt wird. Als eifriger Kabbalist behauptete er, dass wer Gott nicht nach kabbalistischen Grundlehren erkenne, sei ein Kleingläubiger; er sündige un­wissend und habe nicht auf Gottes Be­achtung zu rechnen. Ihm waren die Ver­folgungen seiner Zeit mit den häufigen Übertritten zum Christentum die Vor­zeichen der Erlösung. 5. Schemtob ben Joseph Ibn Schemtob (gest. 1430), be­kannt durch seinen Hass gegen jüdische Philosophen: Maimonides, Gersonides u. a. m., die er als Volksverführer dar­stellte. Das wahre Heil habe Israel nur in der Kabbala, der uralten Lehre. Er ist einer der größten Verherrlicher der Kab­bala. 6. Moses Botaral oder Botarelo, Verfasser eines Kommentars zum Jezi­rabuch, ein Beförderer und Vermehrer der Pseudoepigraphie. Die Philosophie hält er nicht für ketzerisch und behaup­tete, dass Philosophie und Kabbala zu vereinen seien, beide enthalten gleiche Lehren, aber unter verschiedenen For­men, Sprechweisen. — Er rühmte sich des Wissens, Gottesnamen und Amu­lette zu mystischen Zwecken zu verwen­den. In obigem Kommentar stellte er die Regeln als Mittel für Träume und Pro­phetien auf. Dieselben sind: Fasten, Waschungen, Gebete, Anrufung von Got­tes- und Engelnamen u. a. m. So galt er als Wundertäter. Es war wieder ein star­ker Rückschritt, den die Kabbala getan, dessen verderbliche Folgen nicht aus­blieben. Ein Jakob Alkorsono gab sich in einer kleinen kastilischen Stadt Cis-meros als Messias aus. Er überraschte mit seiner Wundertätigkeit so sehr, dass der Philosoph Chasdai Kreskas aus Sa­ragossa an ihn geglaubt hat. Andere kabbalistische Autoren dieser Zeit sind: Abraham Saba, Juda Chajut und Joseph Schraga. Eine Abwechslung in dieser Richtung trat bald durch das plötzliche Auftreten eines Kabbalisten, der gleich Abraham Abulasia in seinen Lehren und Werken die Verirrungen der Kab­bala mit ihren Ausläufen als warnendes Beispiel bloßstellt. Der Mann hieß: Kana oder Elkana, der sich als Ab­kömmling des Talmudlehrers, Tana, Nechunja ben Hakana ausgab. Er lebte in Spanien und prophezeite die Ankunft des Messias auf das Jahr 1490. Ihm werden zwei umfangreiche Schriften Kana und Pelia zugeschrieben. Er pole­misiert gegen das talmudische Judentum, welches nach seiner Meinung erst niedergerissen werden müsse, wenn das wahre Judentum, das kabbalistische, aufgebaut werden soll. Er nennt den Talmud einen Krebsschaden in den ed­len Teilen des Judentums, den man mit der Wurzel beseitigen müsse, um gesun­des Fleisch an dessen Stelle zu setzen. Die Kabbala ist das, welches gesundes Leben bringt, durch sie erhalten die Ritualien ihren Wert. Ohne Kabbala würde das Gesetz seit der Zerstörung des Tempels jede Bedeutung verloren haben. Er klagt die Talmudisten wegen willkürlicher Gesetzesanhäufung an und kann nicht genug Schimpfworte ge­gen sie haben. So warf er dem talmu­dischen Judentum den Fehdehandschuh hin, schied die Kabbala als ihm Feind­liches von demselben. Kabbala und Tal­mud wurden von ihm als Todfeinde, die neben einander nicht existieren können, bezeichnet. Er wiederholt die Mystik des Abraham Abulasia; nur in der An­gabe der exegetischen Mittel unterschei­det er sich von ihm, zu denen er die des Talmuds zählt. Dieser Missgeburt der Kabbala folgt bald eine andre nach. Paulus de Heredia (1484), ein getaufter Jude, der gleich dem Vorigen gegen das talmudische Judentum auftrat und mit Hilfe mehrerer, dem Gesetzeslehrer Tana Nechunia ben Kana untergescho­benen Schriften bewies, dass die Tal­mudlehrer die Lehren von Jesus sowie seine Messianität anerkannt und gelehrt hätten. Er verfasste in diesem Sinne mehrere Schriften. Dieses Vorgehen ge­gen das bestehende talmudische Juden­tum und die Nachweise der christlichen Dogmen in der Kabbala weckten bald die Aufmerksamkeit christlicher Ge­lehrten, die sich auf das Studium der Kabbala mit einem wahren Heißhunger warfen. Der erste, den wir nennen ist: Pico de Mirandola (1470). Er hatte zu seinem Unterricht im Hebräischen einen jüdischen Lehrer namens Aleman und kam in Besitz dreier kabbalistischer Schriften: 1. des kabbalistischen Kom­mentars zum Pentateuch von Rekanati, 2. des Chochmath hanephesch von Elasar aus Worms und 3. des Sefer ha­maaloth von Schemtob Falaquera. Das Studium der Kabbala wurde bald eine seiner Lieblingsbeschäftigungen, von der er behauptete, dass keine Wissen­schaft mehr Gewissheit und Aufklärung über das Christentum und seine Dog­men liefere, als sie. Unter dem Papst Sixtus IV. (1471 — 1484) lud er alle Ge­lehrten zu Disputationen nach Rom. Der zweite christliche Verehrer der Kab­bala war Reuchlin, geb. 1455 gestor­ben 1521, der ebenfalls in der Kabbala, in ihren Lehren von den Sephiroth und den Gimatrioth u. a. m. die Quelle für die Wahrheiten des Christentums zu fin­den glaubte. Seine Bekanntschaft mit den Schriften des Joseph Gikatilla, be­sonders mit dessen Buch »Schaare Orah«, das von vielen Christen in Über­setzung gelesen wurde, führte in die Kabbala ein. Er schrieb darauf sein grö­ßeres Werk »de arte cabbalistica« in der Form von Dialogen zwischen einem Griechen, einem Marannen und einem Juden Simon, von denen letzter die Agada und die Kabbala entwickelt. Man findet hier die Dogmen des Chris­tentums in den Lehren der Kabbala nachgewiesen. So feiert das Christen­tum in der Kabbala seine Versöhnung mit dem Judentum. Diesem folgte Egi­dio de Viterbo, der Ordensgeneral des Augustinermönchstums. Ein Jude Baruch von Benevent übersetzte für ihn mehrere Teile des Sohar ins Lateinische; ein anderer, Elia Levita, kopierte für ihn 1516 das Jezirabuch, die Schrift Sod Rasiel und das Sefer hanephesch hacho­chma, durch beide wurde er in die Kab­bala eingeführt. Auch Papst Sixtus IV. ließ mehrere kabbalistische Werke ins Lateinische übersetzen. Ein Vierter war der Leibarzt des Kaisers Maximilian Paul Ricio, ein Täufling, der als Beweis, dass die Kabbala das Dogma des Chris­tentums lehre, einige Kapitel der Schrift Schaare Ohra von Joseph Gikatilla ins Lateinische übersetzte und sie dem Kai­ser 1516 widmete. Der Fünfte, ebenfalls ein Täufling, ist Vida de Saragossa de Aragon, der mit mehreren anderen get­auften Juden in Spanien kabbalistisch die Dogmen des Christentums nachwies (1518). Endlich haben wir noch den Sechsten zu nennen, den Petrus Galati-nus aus Rom, ein Franziskaner-Mönch, der eine Zusammenstellung der christ­lich klingenden Kabbala aus jüdischen Werken unter dem Namen »de arcanis catholicae veritatis« von den Geheim­nissen der katholischen Wahrheit anfer­tigte (1516) und sie 1518 drucken ließ. Die Schrift ist in Form eines Dialogs zwischen Reuchlin, Hochstraten und dem Verfasser. Durch diese Aufnahme und Pflege der Kabbala auch unter den Christen stieg sie desto mehr in Anse­hen unter den Juden, wo sie zu einer nie geahnten Höhe emporwuchs. In Italien und in der Türkei, wohin sie durch die spanischen Flüchtlinge als z. B. Juda Chajut, Baruch von Benevent, Abraham Levi, Mair ben Gabbai, Ibn Abi Simra u. a. m. verpflanzt wurde, war ihre Macht so groß, dass sie auch in den ge­setzlichen Teil des Judentums mit ein­griff und auf die jüdischen Ritualien Einfluss übte. So musste sich der Tal­mud vor der Kabbala beugen und sich Umgestaltungen seiner Bestimmungen, besonders bei Gebeten gefallen lassen. Alles wurde kabbalistisch und so über­trieben, dass sogar der Kabbalist Abra­ham Levi empört ausrief: »Die Kabba­listen beten nicht zu Gott, sondern zu den Sephiroth! « Wieder bildeten Messi­asberechnungen eine Hauptbeschäfti­gung der Kabbalisten, wozu wohl auch die Verfolgungen, die gegen die Juden nie zu enden schienen, vieles beitrugen. 1502 gab sich in Istrien ein Deutscher Ascher Lämmlein als Vorläufer des Messias aus. Die traurige Folge war, dass, nachdem der falsche Prophet ge­storben war und der Messias noch im­mer nicht eintreffen wollte, viele zum Christentum übergingen. Solche Vor­fälle weckten wieder die Besseren unter den Juden, die von solchen kabbalisti­schen Verirrungen frei geblieben waren, zu energischem Vorgehen. Unter diesen ragt der treffliche Italiener Elia del Me-digo (1480 — 1498) hervor. Er sprach es freimütig aus, dass die Kabbala ein fremdes, dem Judentum feindliches Ge­wächs sei, welches das talmudische Ju­dentum nicht kennt, von dem die tal­mudischen Gesetzeslehrer nichts wissen. Das Buch Sohar, diese Bibel der Kabbalisten, sei keine Arbeit des vermeint­lichen Gesetzeslehrers R. Simon ben Jochai, und die Lehre von den Sephiroth habe im Neuplatonismus ihre Heimat. Eine neue Wendung in der Kabbala trat in der nun folgenden fünften Epoche (1500 — 1700) ein. Die Wundertätigkeit der Kabbala als Ausfluss der Mystik, ist noch in der ersten Zeit ihr Hauptthema, aber bald muss dieselbe zurücktreten; sie wird von bedeutenderen Vorgängen auf einige Zeit in den Hintergrund ge­schoben, und die Theorie nimmt wieder die Geister ausschließlich in Anspruch. Wir rechnen zu den Männern der erste­ren: Diogo Pires, jüdisch Salomo Mol-cho (1501 — 1532) und Joseph Karo (1488 —1575); beide rühmten sich eines Himmelswesens, Maggid, das ihnen die Geheimnisse der Kabbala offenbare. Die Messiasberechnung, die Verkündi­gung der Ankunft des Messias, die Bil­dung des messianischen Reiches und die Vorbereitung darauf, waren hier die Ge­genstände ihrer theoretischen und prak­tischen Tätigkeit, der sie sich mit bewundernswürdiger Aufopferung hin­gaben. Wir gehen über dieselben rasch hinweg, weil uns andere Männer be­schäftigen, die einen neuen Umschwung in die Kabbala brachten und Neugestal­tungen in deren Theorie und Praxis her­vorriefen, die heute noch bei den Kab­balisten maßgebend sind. Wir nennen: 1. Isaak Luria, ein Deutscher nach Ab­stammnug, geboren in Jerusalem 1534, der unter dem gekürzten Namen »Ha-Ari« (der Löwe) heute noch mit vielen Verehrung von den Kabbalisten genannt wird. Er kam nach Kairo, wo er im Hause seines Oheims ausgebildet wurde und kehrte dann wieder nach Palästina zurück, wo er abwechselnd in Safed (Zephath) und Akko wohnte. In der Kabbala wurde er von den Jüngern des David Ibn Abi Simra unterrichtet, so dass er schon zu vierundzwanzig Jahren als Autorität in derselben galt. Der So-har zog ihn ganz besonders an, er suchte in dessen Lehren ein System zu bringen und stellte seine Kabbala systematisch dar. Durch seine Vertiefung in die soha­ristische Kabbala fand er bald die Lü­cken in derselben, die er auch beseitigte und dadurch ihrem System eine gewisse Abrundung zu schaffen im Stande war. Es war die Angabe über die Weise des Hervorganges der Sephiroth und der Schöpfung aus denselben, d. h. die Auf­klärung über den Eingang der Gottheit in die Form der Wesenheit. Dieselbe, lehrte er, geschah durch Selbstkontrak­tion Gottes, Gottes-Selbstzusammenzie­hung, um aus der Unendlichkeit Gottes die Endlichkeit der Wesen zu entfalten oder hervorgehen zu lassen. Er nannte diese Angabe »das Geheimnis der Selbstkontraktion«. Das Zweite, was sich daraus ergab, betraf das andere, den Hervorgang der Schöpfung aus den Sephiroth. Es war dies die Annahme von Parzuphim, des Gewebes von Kräf­ten und Gegenkräften, Wirkungen und Gegenwirkungen, Formen und Stufen als: die Sonderung, die Schöpfung, die Bildung und Wandelung. Er gebrauchte eine ganze Menge von Schlagwörtern dafür: »Adam Kadmon«, Urmensch; »Atik Jomin«, der Alte an Tagen; »Erech Anpin«, das lange Gesicht; »Seir Anpin«, das kurze Gesicht; »Männli­ches, Weibliches«; »Vater und Mutter«; »Gehirn und Lichter«; »Farben und Gefäße«; »Schwängerung, Säugen und Wachstum«; »Verbindung und Tren­nung« u. a. m. Ganz neu über die Ent­stehung des Bösen war seine Aufstellung des Geheimnisses von dem Bersten der Gefäße, der Leitungsorgane in Folge der allzu großen Mitteilung der göttlichen Fülle, als eine Überströmung derselben, was ein neues Chaos in sieben Stufen hervorbrachte und »das Geheimnis der Sieben Könige« hieß. Gutes und Böses waren vermischt und durcheinander, aus denen die gegenwärtige Welt her­vorgegangen sei. Einen zweiten Teil seiner Kabbala bildet die praktische Kabbala zur Herbeiführung des Got­tesreiches, einer Welt- und Gottesord­nung; es ist die Ethik der Kabbala, der hier die erste ausführliche systematische Behandlung und Zusammenstellung dient. In den Lehren und Bestimmungen derselben stellt er die Seele als Spiegel der Verbindung des Unendlichen mit dem Endlichen auf. Die Entstehung und Beschaffenheit der Seele findet in Fol­genden ihre Darstellung. Mit Adam sind alle Seelen an dessen verschiedenen Organen mitgeschaffen, sodass es ver­schiedene Stufen und Klassen der See­len: Gehirnseelen, Augen-, Ohren-, Hand- und Fußseelen gibt. Jede Seele ist ein Funke, Ausfluss, von Adam. Hier schließt sich seine Theorie von der Erb­sünde an. Die Sünde Adams hat diese Ordnung in den Seelenklassen sowie »Gutes und Böses« überhaupt in Ver­wirrung gebracht, sodass auch die beste Seele eine Beimischung des Bösen emp­fangen hat. Das Böse hat hier den Na­men »Schale«. So kann die erste sittli­che Weltordnung nur durch das Schwinden des Durcheinanders von Guten und Bösen wiederhergestellt wer­den. Von dem schlechten Teil der See­lenfülle stammt die heidnische Welt, aber von der guten die israelitische. Doch ist kein Teil von der durch den Sündenfall Adams geschehenen Beimi­schung frei. Dieselbe stört bei dem Isra­eliten die Vollziehung des Gesetzes und reizt zur Sünde. Die Vernichtung und völlige Aufhebung dieses Übels, sodass die ursprüngliche Weltordnung wieder eintrete, ist der messianischen Zeit vor­behalten, soll das Werk des Messias, des zweiten Adams, sein. Er wird die Ver­göttlichung der Welt, d. h. das All wird wieder der Ausströmung der göttlichen Gnadenfülle teilhaftig werden, herbei­führen. Eine völlige Scheidung des Gu­ten vom Bösen tritt alsdann wieder ein, was jedoch erst von Israel durch Entfer­nung des Bösen von sich vorgenommen werden müsse. Diesem schließen wir den dritten Hauptpunkt seiner Kabbala an, die Lehren von der Seelenwande­rung. Dieselben bilden den Schwer­punkt der Lehren seines kabbalistischen Systems. Zur Entfernung der Beimischung des Bösen und zur Wiedererlan­gung der ursprünglichen Reinheit müs­sen die Seelen aller Menschen, auch die der Gerechten, Wanderungen durch Menschen- und Tierleibes durch Flüsse, Holz und Stein vornehmen. In eng­ster Verbindung damit steht der vierte Gegenstand dieses Systems, die Angabe des Mittels zur Beschleunigung die­ses Wiederherstellungsprozesses, das er »das Geheimnis der Seelenaufschwin­gung, oder der Seelenschwängerung«, nennt, d. h. wie die Seele eines Verstor­benen sich mit der eines Lebenden ver­bindet, sich ihr eng anschließt und ver­einigt, um entweder das im Leben Versäumte nachzuholen oder um die andere zur Vollführung des Guten zu unterstützen und zu kräftigen; natürlich findet ersteres bei den Seelen der Sün­der, aber letzteres nur bei denen der Frommen statt. Solche Vereinigung von Seelen könne oft auch von drei Seelen geschehen, aber werde nur von den gleichartigen Seelen, d. h. von solchen, die von einem adamitischen Funken ei­nes und desselben Organes abstammen, aber nicht von ungleichen, die sich ab­stoßen, vollbracht. Die Zerstreuung Is­raels habe den welterlösenden Zweck, die Seelen der Frommen aus seiner Mitte mit denen der anderen Menschen verei­nigen zu lassen, um sie zu Tugendwer­ken zu entflammen und die ursprüngli­che Weltordnung desto schneller wieder herzustellen. Der fünfte Gegenstand be­trifft das Erkennen der Seelen: 1. zu welchem Geschlecht jede gehöre, ob einem Manne oder einer Frau eine weibli­che oder eine männliche innewohne; z. ob die Seelen eines Ehepaares, von dem Mann und der Frau, einer Klasse ange­hören, d. h. von einem und demselben Funken Adams abstammen, also ob sie gleichartig sind, worauf man beim Ein­gehen einer Ehe zu achten habe, wenn eine gute Nachkommenschaft erzielt werden soll. Gleichartige Seelen ziehen einander an und geben tüchtige Nach­kommen. Der sechste Gegenstand ist die Angabe der Mittel zum Empfang von Geheimnisoffenbarungen. Mittels geübten Erkennens gleichartiger Seelen können auch abgeschiedene Seelen zur Wiederrückkehr in die Leiber der Le­benden, um sich da mit der Seele zu ver­einigen, beschworen werden, die sich alsdann Geheimnisse offenbaren, wo­durch der Mensch Prophetien erhalten kann. Die Erkennungszeichen der See­len, von denen wir oben sprachen, sind an der Stirne des Menschen. Dieselben geben an, welchen Zusammenhang die betreffende Seele mit der Oberwelt habe, welche Wanderung sie schon durchgemacht habe und auf welche Weise sie die Störung in der Weltord­nung gut machen könne; wie sie sich von den Banden böser Geister zu be­freien vermöge, welch Seele sie sich zur Paarung, Vereinigung, aussuchen solle u. a. m. Zu solcher Vereinigung kann die Seele durch Beschwörungsformel gezwungen werden. Isaak Luria rühmte sich, die Seele des Messias ben Joseph zu besitzen und eine messianische Sendung zu haben. Er schickte sich an, seine Lehren von der Wiederherstellung der sittlichen Weltordnung zu verwirkli­chen. Im Jahre 15 69 übersiedelte er von Kahiro nach Safed (Zephat), wo er in dem Kreis gleichgesinnter Männer einen Verein zu diesem Zweck bildete. Zu demselben gehörten: Joseph Karo, Sa­lomo Alkabiz, Mose Kordovero, Moses Alscheich, Elia de Vidas, Elisa Galadoa, Joseph Hagis, Mose Basula. Sie kamen jeden Freitag zusammen, um sich einan­der die Sünden zu beichten. Einen treuen Genossen fand Luna an Chajim Vital, einem aus Italien eingewanderten jun­gen Mann, an dessen Stirn er erkannte, dass er eine reine, von der Sünde Adams nicht befleckte Seele besitze. Dieser schloss sich ihm innig an und begleitete ihn auf seinen Streifzügen in Palästina. So bildete sich um ihn ein großer Jün­gerkreis, den er in zwei Klassen teilte, in Novizen und Eingeweihte. Letzteren teilte er seine Kabbala nebst den mit ihr verbundenen Beschwörungsformeln mit. Dieser Verein erweiterte sich bald zu einer Gemeinde, die sich von der Hauptgemeinde fern hielt. Die Kabbala hatte da ihren vollen Einfluss auf die Verrichtung der Gebete, die Ausübung der Ritualien, die Bestimmung neuer Anordnungen u. a. m. Die neuen Ritua­lien standen bald in solcher hoher Ach­tung, dass sie nach seinem Tode gesam­melt und zu einem Kodex unter dem Namen »Schulchan Aruch des Arii« zu­sammengestellt wurden, von dem ein großer Teil die Zeremonien für den Shabbath »Tikune Schabboth« um­fasste. Der Talmud wurde, wie schon im Sohar, unter die Kabbala gestellt, so­dass der von geringer Befähigung nicht den Talmud, sondern nur die Kabbala zu studieren brauche. Auf einer anderen Stelle wird ausdrücklich das Studium der Kabbala dem der Mischna vorgezo­gen. Luria kleidete sich am Shabbath weiß, trug — in Bezug auf die vier Buch­staben des Tetragammaton ein vier­faches Gewand. So hätte die Kabbala damals schon das vollbracht, was ein Jahrhundert später in Polen geschehen, die Bildung von kabbalistischen Sekten. Luria gab sich zuletzt als den Vorläufer des Messias aus; er sagte von sich: »Ich bin der Messias Sohn Joseph!. Die Kab­bala feierte in dem lurianischen System ihre höchste Blüte. Nach allen Seiten, in allen ihren Teilen erhielt sie, wie nie zu­vor, eine Entwicklung und Abrundung in kaum geahnter Vollendung. Das kab­balistische Judentum wurde ein anderes als das talmudische. Luria selbst muss zuletzt vor seiner Kabbala einige Scheu bekommen haben, mehrere Mal warnte er vor den in seinem Namen sich ver­breitenden Lehren der Kabbala und gab sie als unecht aus. Seine Schüler zauder­ten lange mit der Veröffentlichung der­selben. Der eine hielt die Schriften des andren als nicht mit den Lehren ihres Meisters zu vereinbaren. Chajim Vital, einer der älteren Jünger, wollte sich zur Verbreitung der lurianischen Kabbala, in deren Besitz er sich allein hielt, gar nicht verstehen. Er bekannte öffentlich, dass seine Schriften nichts von der Kab­bala Lurias enthalten. Diese Zögerung und Scheu in der Verbreitung der neuen Lehre war nicht umsonst. Die Kabbala hat die reine biblische Gottesidee nebst den Gesetzen und Lehren des Mosais­mus mit ihren Phantasmen lawinenartig überschüttet. Der klare Horizont des jü­dischen Himmels verdüsterte sich. Ein ganzes Jahrhundert hatte die Kabbala ihre Lehren nach innen nicht weiter ent­wickelt, aber desto mehr nach außen verbreitet. Mit unglaublicher, ungeheu­erlicher Schnelligkeit fanden sie ihren Weg zu den Juden Asiens und des fer­nen Europas. Die Messiasberechnun­gen, die Messiasvorboten, die vielen Messiaserscheinungen, die Wundertä­tigkeit der Heiligen bis auf Luria — wa­ren nur Kindereien im Vergleich zu dem, was jetzt kam. Geistererscheinungen, Geisterbeschwörungen, augenblickli­che, göttliche Eingebungen waren, wie nie zuvor, im Schwunge und rissen die Gemüter mit sich fort. Jeder Kabbalist hatte einen himmlischen Geheimnisof­fenbarer, Maggid; sie alle gerierten sich als Propheten, aus deren Mitte bald Messiasse, Messiasvorboten, Messias-Gottheiten hervorgingen. Wir erinnern an Sabbatai Zevi, der sich für einen Messiasgott, als die in ihm sich verkör­perte Schechina ausgab. Die Verirrungen und Ausartungen der Kabbala kannten keine Grenzen mehr. Da erhoben sich gegen dieses unsinnige Treiben noch zur Zeit wieder die Nüchternen und Ein­sichtsvolleren, um der Kabbala in ihrer weiteren Ausbreitung einen Damm ent­gegen zu setzen. Schon der Greis David Abu Ibn Simra warnte Luria vor den Ausschweifungen, zu denen seine Kab­bala führe. Ein anderer Mann sagte ihm grade ins Gesicht, er halte nichts von seiner kabbalistischen Wundertäterei; ja es ging so weit, dass er einen seiner Jün­ger ausstoßen musste. Einen ähnlichen Ausspruch macht der ehrliche Kabbalist Chajim Vital (1543 — 1620): »Sämtliche kabbalistische Schriften aus der Zeit nach Nachmanides sind unzuverlässig, man traue ihnen nicht.« In ähnlichem Sinne äußerte sich R. Salomo Luria (1510 — 1573) in seinen Responsen Nr. 98: »Wisse, mein Freund, es standen Neuere (in der Kabbala) auf, sie wollen Kabbalisten und Forscher der Geheim­lehren sein, aber in Folge ihrer Schwä­che verstehen sie nicht in das Licht des Sohar zu schauen, sie verstehen weder den Eingang noch den Ausgang in die­sem Buche.. Ähnliches hören wir von einem andren Zeitgenossen: »Jüngere bringen Aussprüche aus dem Sohar und aus dem Jezirabuch, die sie nach ihrer eigenen Ansicht, ohne Tradition von ih­ren Lehrern erklären, entferne diese Schriften von dir. « Noch schärfer spricht sich Moses Iserles (1510 — 1573) gegen die neuen Kabbalisten aus: »Ich habe nie einen Kabbalisten gesehen, der seine Sache gründlicher nach den Lehren der wahren Kabbala verstand.« Man wird diese Gegenstimmen desto mehr zu würdigen verstehen, wenn man ihnen den Ausspruch von Rekanati entgegenhält: »Was du in der Thora durch deine Forschung herausbringen kannst, bringe hervor, dann wohl dir, obwohl du es nicht von einem Kabbalisten empfangen oder in einem der Bücher der Weisen ge­lesen hast. « Isaak Luria, der Begründer dieser neuen Kabbala, starb an der Pest den 5. Ab (August) 1572. Die Jünger Lurias, die sich »Guri Ari«, »Jünger des Löwen«, nannten, gaben sich nunmehr als die alleinigen Besitzer der wahren Kabbala aus. Unter diesen tat sich be­sonders Chajim Vital, der Kalabrese (1543 — 1620) hervor, der sich als der alleinige Besitzer der echten lurianischen Kabbala ausgab. Er wohnte in Safed, machte Abstecher nach Kairo und Ale­xandrien, wo er seine Kabbala predigte, und übersiedelte zuletzt nach Damas­kus. Vor seinem Tode erließ er die Auf­forderung, er dürfe jetzt die Geheim­nisse der Kabbala offenbaren, es möchten sich geeignete Männer für die­selben melden. Doch befahl er, dass man ihm die Lurianischen Schriften mit ins Grab gebe. Die Sage fügt hinzu, dass der Kabbalist Jakob Zemach dieselben aus seinem Grabe geholt und so weiter verbreitet habe. Ein anderer Jünger Lu-rias, Israel Saruk, ein Deutscher, ver­breitete die lurianische Kabbala in Ita­lien und Holland. In Holland schloss sich ihm der Jünger Abraham de Her­rera eng an (gest. 1639). Derselbe suchte die lurianische Kabbala durch die neu­platonische Philosophie zu veranschau­lichen und ihr weitern Eingang bei Ge­lehrten zu verschaffen. Er verfasste zwei Schriften: »das Gotteshaus« und »die Himmelspforten«, die der gelehrte Rab­biner Isaak Aboad ins Hebräische über­setzte. In Polen waren die Lehrer und Verbreiter dieser Kabbala: 1. Simson Astropol in Polemoia und 2. Nathan Spiro (1585 —1633). In Deutschland: 3. Jesaja Horwitz (geb. 1570 , gest. 1630), bekannt als Verfasser des Buches: »Schela«, die zwei Bundestafeln; 4. Naftali Frankfurter oder Naftali ben Ja­kob Elchanan aus Polen, in Frankfurt wohnhaft, ebenfalls bekannt durch sein Werk »Emek hamelech«. Die Kabbala feierte durch solche Vertreter ihrer Leh­ren ihren höchsten Triumph. Diese Männer gehörten zu den angesehensten Rabbinern und Talmudgelehrten; eine Art Verschwisterung der Kabbala mit dem Judentum ward vollbracht. Bei die­ser Vereinigung hatte das Judentum sehr gelitten; es büßte viel von seiner frühe­ren Einfachheit ein. Zeremonien, Ritua­lien, Minhagim des Ari wurden einge­führt und erhielten ihre Sanktion. Das erweckte wieder heftige Gegner. Es gab noch immer Männer unter den Juden, die unermüdlich und nachdrucksvoll gegen die Kabbala und ihre Neuerun­gen protestierten. Wir nennen unter an­deren Leon ben Isaak Modena (geb. 1571, gest. 1649). Er bekämpft die Kabbala in zwei Schriften: in einer, »Ben David«, das Dogma von der Seelenwan­derung, die er als unjüdisch bezeichnet; in drei andren, »Ari Noham«, ihre and­ren Lehren. Diesem schlossen sich spä­ter die Gelehrten Jakob Emden (1750) und Elia Wilna (1760) an. Andere gin­gen einen Schritt weiter und bekämpf­ten mit der Kabbala auch das Rabbinertum, das sich durch seine Vereinigung mit der Kabbala so sehr entstellt hatte. Sie verwarfen beides und gingen auf die reine Bibellehre zurück, um aus ihr ein neues Judentum herzustellten. Es wa­ren: 1. Uriel da Kosta (geb. 1590, gest. 1640), 2.. Joseph de Megiso (geb. 1591, gest. 165 5) und 3. Simon Luzzatto (geb. 1590, gest. 1633). Ersterer verfasste eine Schrift über die Verschiedenheit des Judentums seiner Zeit von dem des bib­lischen unter dem Namen: »Prüfungen der pharisäischen, rabbinischen Traditi­onen« (1625). Der Zweite schrieb gegen den Talmud und die Kabbala; er be­zeichnete letztere als unjüdisch, wohl platonisch-pythagoräischen oder gnos­tischen Ursprungs. Doch hatten sich die gefährlichen Konsequenzen der Kab­bala noch nicht entwickelt; dasselbe ge­schah jetzt durch das Auftreten eines Mannes, in dem das Judentum die Dul­dung der kabbalistischen Verirrungen schwer büßen musste. Es war: Sabbatai Zevi (geb. in Smyrna 1626, gest. 1676). Derselbe vertiefte sich in die Kabbala, gab sich für den Messias aus und er­klärte sich als Gott, d. h. die Gottheit, Schechina, habe sich in ihm verkörpert. Wir geben hier in möglichster Kürze ei­nen Abriss seines kabbalistischen Sys­tems. Die lurianische Kabbala bis auf die Lehre von dem »Bersten der Ge­fäße«, bildete die Grundlage der Seini­gen. Zur Wiederherstellung der Welt in ihrem ursprünglichen Plan Gottes sei aus dem Alten an Tagen (Gott) eine neue Person hervorgegangen, der die Sünde, das Böse, vernichten und die Gnadenzeit herbeiführen soll. Derselbe sei der wahre Gott, der Erlöser der Welt, der Gott Isra­els, dem die Anbetung gebührt. Er hat zwei Naturen, eine männliche und eine weibliche. Bis zum Erscheinen dieses Messias sei die Welt durch den Engel Metatron regiert worden. Er, Sabbatai Zevi, sei dieser Messias, ihm sei die Welt­herrschaft übergeben, er sei der Stellver­treter Gottes und durch ihn gelange Gott zur Allmacht. So unterzeichnete er seine Briefe: »Sabbatai Zevi«; »Ich bin Jhvh, euer Gott!« Nach vielen Berichten habe er das Speisegesetz aufgehoben, selbst von dem Nierenfett der Rinder gegessen. Der ihm ergebene Anhang bildete eine eigene Sekte, die nach allen Gegenden Europas und Asiens Gesandte aus­schickte. Acht Männer, die fast ein Jahr­hundert repräsentieren, suchten die sab­bathianischen Lehren weiter zu verbreiten: Kardoso, Mordchai Mochi­ach, Daniel Israel, Duerido Chajim Mo­loch, Chajon und Loebele Proßnitz. Noch aus der Mendelssohnschen Zeit haben wir einen dem Sabbatai Zevi ähn­lichen kabbalistischen Abenteurer, den Jakob Frank aus Galizien, zu nennen, der sich ebenfalls als Messias gebärdete und sein Unwesen später sogar in der Mitte Deutschlands treib.