Exilarch - Talmud

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Exilarch, Exilsfürst, Oberhaupt der Exilanten. Die Juden in den babylo­nischen Ländern hatten gleich denen in Alexandrien und Palästina zur Leitung und Betreuung ihrer Angelegenheiten ein aus ihrer Mitte gewähltes und vom Staate anerkanntes Oberhaupt. In Ale­xandrien führte dasselbe den Namen: »Ethnarch« oder »Alabarch«, in Paläs­tina nach der Auslöschung des jüdi­schen Staates: »Nassi«, Fürst, Patriarch, und in Babylonien: »Resch-Gelutha«, Exilsoberhaupt, Exilsfürst. In Palästina und Babylonien hielten sich viele Exils­fürsten für Abkömmlinge aus dem da­vidschen Königshause, während sie in Alexandrien oft priesterlicher (aharoni­discher) Abkunft waren. Über erstere hat die Tradition: »Es weiche nicht das Szepter von Juda und die Gesetzgeber von seinen Füßen«, das sind die Exils­fürsten in Babylonien und die Patriar­chen in Palästina, Hillels Enkelsöhne, welche die Thora öffentlich lehren.

I. Ernennung, Einsetzung, Huldi­gung und jährliche Courwoche. Die Ernennung des Exilsoberhauptes ge­schah durch das Volk, die persischen Könige behielten sich nur das Bestäti­gungsrecht vor. Berichte über dieselbe haben wir erst aus späterer Zeit, schon der islamischen Periode; es ist daher zweifelhaft, ob der in denselben ange­ gebene Modus auch in älterer Zeit üb­lich gewesen. Wir bringen davon das Hauptsächlichste. Nachdem die Ernen­nung desselben durch das Volk gesche­hen, begaben sich die Würdenträger der beiden jüdischen Hochschulen Sura und Pumbadita unter Begleitung der Vornehmen der jüdischen Bevölkerung und ihrer Kollegen in das Haus des er­nannten Exilarchen. Ein großes, schön ausgeschmücktes Zimmer stand zu ih­rem Empfange bereit, wo Ehrensitze für sie und den Exilarchen eingerichtet waren. Zur Rechten des Exilarchen setzte sich das Schuloberhaupt von Sura, zu Linken das von Pumbadita. Sodann erhob sich das Schuloberhaupt von Sura und hielt an den ernannten Exilarchen eine Ansprache, worin er ihm seine Stellung und die übernom­menen Pflichten darlegte mit der aus­drücklichen Mahnung, sich nicht hoch­mütig über das Volk zu erheben. Die eigentliche Huldigung fand donners­tags darauf in der Synagoge des Ortes statt. Die beiden Würdenträger legten ihre Hände auf sein Haupt und unter lautem Trompetenschall riefen sie: »Es lebe der Exilsfürst, unser Herr der Fürst N. N.!« Das Volk stimmte ju­belnd mit ein. Man begleitete darauf­hin den Exilarchen nach seinem Palast, wo die Huldigungsgeschenke entge­gengenommen wurden. Am Sonnabend derselben Woche fand ein feierlicher Gottesdienst statt. Der Exilarch nahm auf einer turm- und säulenartigen Tri­büne, die für ihn eigens errichtet und mit kostbaren Stoffen ausgeschmückt war, gleich den Königen davidscher Abstammung in dem Tempel zu Jeru­salem, seinen Sitz ein. Ein Vorbeter trug in abwechselnder Rezitation mit dem Volke Gebete vor. Die beiden nah­men nach einer üblichen Kniebeugung ihre Sitze neben ihm ein: der von Sura zur rechten Seite desselben, der von Pumbadita zu seiner Linken. Bei der Vorlesung aus der Thora brachte man die Thora auf seinen Sitz, aus der er ei­nen Abschnitt vorlas, den das surani­sche Schuloberhaupt in die Landes­sprache übersetzte. Nach beendigter Thoravorlesung hielt der Exilarch, wenn er gelehrt war, einen Vortrag; sonst vertrat ihn darin eines der Schuloberhäupter. Das übliche Kad­dischgebet folgte, das eine Einschal­tung enthielt: »Beim Leben des Exils­fürsten N. N.« Ein Gebet für das Wohl des Exilsfürsten, der Schuloberhäupter und der Mitglieder der Hochschulen sowie für die Länder und Städte, wel­che die Hochschulen unterstützten, schloss den feierlichen Gottesdienst. Der Exilarch wurde unter feierlicher Prozession nach Hause begleitet, wo er ein großes Mahl für die Würdenträger, die Vornehmen des Volkes u. a. m. gab. In der Folge fand in Sura jährlich in der dritten Woche nach dem Laubhütten­feste eine Courwoche für die Schulober­häupter, die Jünger der Hochschulen und das Volk statt, ein wahres Wall­fahrtsfest von Tausenden und Tausen­den, das unter dem Namen »Rigla de Resch-Gelutha«, Wallfahrtsfest des Exilsoberhauptes, bekannt war. Im Shabbath wiederholte man in der Syna­goge das Zeremoniell der Ernennung, womit man populäre Vorträge zu ver­binden pflegte. Der Volksandrang hierzu war so stark, dass die Stadt Sura sie nicht alle beherbergen konnte und ein großer Teil auf dem Felde unter freiem Himmel übernachten musste.

II. Würde, Stellung, Abzeichen, Macht, Tätigkeit und Einfluss. Der Exilarch war das politische Oberhaupt der Juden in den babylonischen Län­dern des persischen Reiches und vertrat als solches die Interessen derselben bei dem König von Persien. Er nahm unter den Reichswürdenträgern den vierten Rang nach dem Könige ein. Seine Ab­zeichen waren: ein seidenes Oberge­wand, ein goldener breiter Gürtel und ein Amtssiegel. Letzteres trugen auch seine Hausgelehrten und seine Diener­schaft als Wappen in ihren Kleidungs­tücken. Zu Audienzen beim Könige empfing ihn ehrerbietigst die königli­che Dienerschaft, und er verhandelte unmittelbar mit dem Könige. Nach in­nen war er der Oberrichter der Juden, er hatte nicht bloß die Zivilsachen un­ter sich, sondern auch die peinliche Ge­richtspflege. Von ihm wurden die Rich­ter ernannt, und die Schuloberhäupter mussten bei ihm um Erlaubnis zu ihren Funktionen nachsuchen. Ebenso hatte er unter sich das Polizeiwesen, die Auf­sicht über Maß und Gewicht, die Ka­näle und die öffentliche Sicherheit überhaupt. So berichten die talmudi­schen Schriften von der Ernennung Karnas und Mar Ukbas zu Kafri im Nehardäischen zu Oberrichtern (im 3. Jahrh. n.), der des Karna und Rabh über Maß und Gewicht u. a. m. Sein Einfluss war ein sehr bedeutender, man stellte den Exilarchen über den Nassi, Patriarchen in Palästina. Geburtsvor­zug und die ihm in Babylonien vom Könige eingeräumte Macht berechtig­ten ihn dazu. Die Exilarchen hielten sich für die direkten Abkömmlinge männlicher Linie von dem davidschen Königshause, aber die Patriarchen in Palästina behaupteten ihre Abstam­mung nur von der weiblichen Linie desselben. Der Patriarch R. Juda I. (im 2. Jahrh. n.) frug einst bei der Geset­zeserörterung über das Opfer des Fürs­ten: »Ich wäre wohl zur Darbringung eines solchen Opfers verpflichtet?« R. Chia entgegnete ihm: »Du hast deinen Gegner in Babylonien! Du hast die Ge­setzgebung, aber der Exilarch in Baby­lonien führt das königliche Szepter! « Allgemein sprach sich das Verhältnis der beiden Häupter der Juden zueinan­der in den Lehren aus: »Es weicht nicht das Szepter von Juda«, das sind die Exilarchen in Babylonien; »und der Gesetzgeber von seinen Füßen«, »das sind die Patriarchen in Palästina, die Enkelsöhne Hillels, welche das Gesetz lehren.« »Du strittest mit Gotteswesen und Menschen«, das sind die zwei Oberhäupter Israels; die Exilarchen in Babylonien und die Patriarchen in Palästina. Die babylonischen_ uden taten sich auf die höhere Stellung ihrer Exil­archen etwas zugut und machten sie öfters bei dem Patriarchen R. Juda I. geltend, wogegen die Palästinenser den Vorrang der Gesetzgebung, die Bestim­mungen der Neumonde u. a. m. be­haupteten.

III. Einkommen, Hausstand, Besit­zung, Amtsführung, Missbrauch, Kla­gen, Unwissenheit, Gesetzesübertre­tung. Das Einkommen der Exilarchen war bis ins 3. Jahrh. noch unbestimmt, es bestand aus freiwilligen Geschenken der Gemeinden und Einzelnen, aber später wurde für ihn eine förmliche Kopfsteuer, z Sus für jede Person von 20 Jahren ab, festgesetzt. Außerdem hatte er ausgedehnte Besitzungen von Ländereien, besaß viele Sklaven und unterhielt eine Menge anderer Diener­schaft. Bald stellte sich auch bei den Exilarchen der orientalische Luxus ein, die Exilarchen liebten den fürstlichen Luxus, sie fuhren auf vergoldeten Prachtwagen mit einem Gefolge von Dienern aus, und Vorreiter mussten seine Ankunft verkünden. Musik war bei seinem Aufstehen und Schlafenge­hen üblich. Es gab bei ihm lange und große Tafeln mit den teuersten und kostbarsten Speisen, zu der auch Ge­lehrte geladen waren. Verschiedene Lustgärten wurden für ihn in verschie­denen Gegenden angelegt. Gleich den persischen Königen zog er sich in seine Gemächer zurück, zeigte sich selten und war dem Volke wenig zugänglich. Desto mehr ließen sich seine Diener al­lerlei Bedrückungen und Amtsüber­schreitungen zuschulden kommen, sogar gegen die Gelehrten und Schuloberhäupter. Dies ging so weit, dass sie sich an dem Eigentum anderer vergriffen. Die Sklaven des Exilarchen, die Zeitgenossen Rab Nachmans (im 4. Jahrh. n.), nahmen gewaltsam einer Frau Baumaterialien weg, um aus die­sen eine Laubhütte für den Exilarchen zum Laubhüttenfest aufzustellen. Der Exilsfürst und das Schuloberhaupt sa­ßen in derselben, da kam die Frau und schrie gekränkt ihnen zu: »Der Exils­fürst und die Lehrer sitzen in einer ge­raubten Festhütte! « Sie bemächtigten sich fremder Grundstücke, so dass man in Gerichten dem Eigentum des Exilar­chen kein volles Besitzrecht zuerkannte, weder was die Knechte für ihn erwar­ben, noch was andere für ihn kauften. Im Hause des Exilfürsten rächte man sich dafür, dass sie die Absetzung der Schuloberhäupter durchsetzten und Unwürdige an deren Stelle ernannten. Den Gehorsam erzwang man sich durch Strafen, die sich bis zu Stock­schlägen steigerten. So traten oft Zer­würfnisse zwischen dem gelehrten Stande und dem Exilarchen ein. Mar Ukba sprach sich gegen ihn tadelnd wegen der musikalischen Belustigung in seinem Hause aus. Hierzu kam die Unwissenheit der Exilsfürsten in der Gesetzeskunde, dass in ihrem Haus die Übertretung von Speisegesetzen und anderer gesetzlichen Bestimmungen mehrere Mal vorkam. Die Gesetzesleh­rer sahen sich gezwungen, einige Ge­setzeserleichterungen in Bezug auf das Haus des Exilarchen zuzugestehen. Andere dagegen glaubten desto mehr mit Gesetzeserschwerungen gegen das Haus des Exilarchen vorzugehen, weil die Hausdienerschaft sich ohnedies schon viel des gesetzlich Verbotenen erlaubte. Die Dritten gingen darin noch weiter und wollten nichts mehr an sei­ner Tafel genießen, und als sie darüber vom Exilarchen zur Rede gestellt wur­den, warfen sie ihm gradezu die gesetz­lose Lebensweise seiner Dienerschaft vor. Dafür waren letztere manchen Misshandlungen von Seiten der Die­nerschaft des Exilarchen ausgesetzt. Sie rief ihnen zu: »Weise sind sie nur für das Böse, aber nicht für das Gute; für Gesetzeserschwerungen, aber nicht für Gesetzeserleichterungen! « Doch gab es auch unter den Exilarchen rühmliche Ausnahmen, Männer, die sich durch Gesetzeskunde auszeichneten und des­halb auch den Titel: »Rabban«, Ge­lehrter, führten, als z. B. im 4. Jahrh. n. der Exilarch Mar Ukba, der Halacho­ths im Namen des R. Samuel vortrug, u. a. m.

IV. Geschichte. Von den Exilarchen werden im Talmud nur vier mit Namen angegeben, von denen der Erste, Mar Huna, dem Anfange des 3. Jahrh. n. angehört, dessen Leiche nach Palästina zur Beerdigung gebracht wurde. Spä­tere Traditionen führen ihren Anfang auf Serubabel, den Enkel des nach Babylonien in Gefangenschaft abgeführ­ten Jojachin zurück. Nach denselben zählten die Exilanten im 3. Jahrh. schon 15 Geschlechter. Wir sind daher hier mehr auf nachtalmudische Anga­ben angewiesen. Das Seder Olam sutta zählt vom Jahre 219 — 511, also in der ganzen Epoche der Gesetzeserklärer, Amoraim, zwölf Exilsfürsten in Baby­lonien. Dieselben sind: 1. Anan, Zeit­genosse Samuels und Rabhs im 3. Jahrh. n., der die Zerstörung Nehar­deas (259) erlebte; 2. Nathan, Zeitge­nosse von R. Juda ben Jecheskel und R. Schescheth; 3. Nehemia, Zeitge­nosse des Rab Chasa; 4. Ukba mit dem Titel: Rabban, Gelehrter, Sohn des Ne­hemias und Enkels Rabhs, Zeitgenosse Rabbas und Rab Josephs; 5. Huna oder Samuel Mar I., Bruder Ukbas, Zeitgenosse Abajis und Rabas; 6. Abba Mari, Sohn Ukbas, Zeitgenosse des Rab Nachman bar Jizchak, des Rabina I. und des Rab Papa; 7. Mar Kehana; 8. Mar Jemar; 9. Mar Sutra; 1o. Mar Kehana II; 11. Huna Mar II., den Firuz im Jahre 470 — 71 hinrichten ließ und 12. Rab Huna, der im Jahre 511 starb. Von diesen gehörten dem gelehrten Stande an: der Exilsfürst Nathan mit seinen Söhnen Nehemia und Ukba, die Enkel Rabhs, sie führten den Titel: Rabbanan; von denen letzterer Ha­lachas im Namen des R. Samuel vor­trug; ferner Mar Samuel, Zeitgenosse Rabas; ebenso der Exilarch in der Zeit des Rafram (im 4. Jahrh. n.), u. a. m. Im Hause der Exilarchen werden als vortragende Lehrer genannt: R. Jiz­chak Naphcha, Rab Gebiha, u. a. m. In Streitigkeiten mit den Exilarchen wa­ren verwickelt: Rabh, der die Über­nahme des Amtes eines Marktaufsehers zur Überwachung der Marktpreise, um die Verteuerung der Früchte zu verhü­ten, verweigerte. Er wurde deshalb ins Gefängnis geworfen, aus dem ihn nur die Fürbitte seines Kollegen Karna be­freite. Im 4. Jahrh. war es Rab Sche­scheth, der sich über die Roheit der Diener des Exilarchen beklagte, dass sie von lebendigen Tieren Fleischstücke ausschneiden, eine Handlung, die das Gesetz mit Nachdruck verbietet. Über die anderen Differenzen zwischen den Exilsfürsten und den Gelehrten haben wir schon oben gebracht.